Jeder weiß es: Eis schmilzt bei null Grad Celsius. Auf diese Weise wurde sogar der Nullpunkt der Celsius-Skala festgelegt. Nun aber haben Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart überraschend beobachtet, dass Eis an der Grenze zu einem Mineral wie Siliziumdioxid schon bei minus 17 Grad Celsius zu schmelzen beginnt, also weit unterhalb des Gefrierpunktes.
Bei der genauen Analyse der nur wenige Nanometer dünnen Schicht aus Wasser stellten die Forscher fest, dass dieses Wasser mit einer Dichte von etwa 1.2 Gramm pro Kubikzentimeter 20 Prozent kompakter ist als normales Wasser.
Die erstmalige Entdeckung hochdichten Wassers gelang mit Hilfe hochbrillanter Röntgenstrahlung, doch was genau zu seiner Entstehung führt, ist noch unbekannt. Da die Erdkruste hauptsächlich aus Siliziumdioxid besteht, könnte diese Entdeckung wichtig sein für das Verständnis von Gletscherbewegungen oder die Stabilität von Permafrostböden, aber auch für andere Phänomene, wie die Vereisung von Flugzeugtragflächen oder die Bewegung von Fahrzeugen auf gefrorener Fahrbahn.
Struktur von Wasser ungeklärt
Trotz seiner einfachen chemischen Formel ist die Struktur von Wasser nach wie vor ungeklärt. Auch weist Wasser eine Reihe „nicht-normaler“ bzw. schwer erklärbarer Eigenschaften auf. So hat es seine höchste Dichte bei vier Grad Celsius. Gefriert es zu Eis, verringert sich seine Dichte, es dehnt sich aus und lässt Rohrleitungen platzen oder Glasflaschen zerbersten. Man geht deshalb heute davon aus, dass es zwei Formen von Wasser gibt – hochdichtes und niedrigdichtes Wasser. In normalem Wasser ordnen sich die Moleküle ständig um und bilden dabei jeweils kleine Bereiche dieser beiden Wasserformen.
Über Experimente an Grenzflächen haben die Stuttgarter Max-Planck-Forscher nun versucht, den rätselhaften Eigenschaften von Eis und Wasser auf die Spur zu kommen. Um Experimente mit Eis vorbereiten und durchführen zu können, arbeiten die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Metallforschung in einem begehbaren Kühlraum bei – 20 Grad Celsius. Sie verwenden perfekte, an der ETH Zürich aus hochreinem Wasser gezüchtete Eis-Einkristalleund präparieren Grenzflächen zwischen Eis und Siliziumdioxid. Siliziumdioxid ist ein Hauptbestandteil der Erdkruste und dient als Modell für Eis-Mineral-Grenzflächen in der Natur.
Neue Röntgenbeugungsmethode entwickelt
Die eigentlichen Mess-Experimente wurden an der European Synchrotron Radiation Facility (ESRF) in Grenoble durchgeführt. Für die Untersuchung der Grenzflächen haben die Wissenschaftler eigens eine neue Röntgenbeugungsmethode entwickelt. Sie basiert auf den besonderen Eigenschaften von hochenergetischen Röntgenstrahlen, wie sie nur von Synchrotronstrahlungsquellen produziert werden. Dabei kommen auch neuartige Brechungslinsen zum Einsatz, mit denen sich die Röntgenstrahlen auf wenige Mikrometer bündeln lassen.
Die erstmalige experimentelle Beobachtung von hochdichtem Wasser an der Grenzfläche zwischen Eis und Siliziumdioxid belegt nun, dass es tatsächlich – unter speziellen Bedingungen – hochdichtes Wasser gibt. Wegen der erhöhten Dichte hat das Wasser auch eine andere Struktur, doch diese kann erst in weiteren Experimenten geklärt werden.
Große Bedeutung für die Gletscherforschung
Aufgrund der anderen Struktur könnten sich auch alle anderen Eigenschaften des hochdichten von normalem Wasser unterscheiden. So würde zum Beispiel eine niedrigere Viskosität – wegen der geringeren Reibung – die Gletscherbewegung fördern. Bei den chemischen Eigenschaften geht es unter anderem um die Löslichkeit von Verunreinigungen wie zum Beispiel Salze. Ist die Löslichkeit für solche Stoffe hoch, könnten sich diese in der flüssigen Dünnschicht anreichern und den Schmelzprozess noch verstärken. Auch stellt sich die Frage, bei welchen Materialien das Grenzflächenschmelzen von Eis überhaupt auftritt: Weitere Tests könnten also auch zeigen, ob man z.B. Tragflächen durch spezielle Beschichtungen unempfindlicher gegen Vereisung machen könnte.
(idw – MPG, 22.04.2004 – DLO)