Unsichtbares sichtbar gemacht: Forscher haben erstmals einen Kompass für die Van-der-Waals-Kraft konstruiert – eine der grundlegenden Bindungskräfte von Materie. Dabei dient ein längliches Molekül als Kompassnadel, die sich je nach Stärke und Richtung der einwirkenden Van-der-Waals-Kräfte dreht. Der neuartige Anzeiger macht diese Kraft erstmals direkt sichtbar und eröffnet neue Wege der Messung, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten.
Sie hält Geckos an der Wand, trägt zur Dichteanomalie des Wassers bei und prägt nahezu alle Interaktionen zwischen Atomen und Molekülen: Die Van-der Waals-Kraft ist nahezu omnipräsent. Denn anders als die elektromagnetische Anziehung wirkt sie auch zwischen neutralen, ungeladenen Partnern – schon eine leichte Umverteilung der Elektronen reicht. Hinzu kommt: Diese Kraft ist zwar sehr schwach und reicht nur wenige Nanometer weit, nimmt aber mit der Größe der gebundenen Objekte überproportional stark zu.
Ein Anzeiger für die unsichtbare Kraft
Um jedoch diese subtilen Bindungskräfte im kleinsten Maßstab zu messen sind aufwändige Messapparaturen nötig. Sie machen es nahezu unmöglich, auch die Van-der-Waals-Kräfte in komplexeren Zusammenhängen wie im Inneren von Poren oder Kanälen eines Materials oder innerhalb eines größeren Moleküls zu erfassen. Dadurch lassen sich die dort wirkenden Kräfte und ihre Wechselwirkungen oft nur über Modelle abschätzen, nicht aber direkt messen.
Doch nun gibt es Abhilfe: Forscher um Xiao Chen von der Tsinghua Universität in China haben eine Art Kompass für die Van-der-Waals-Kraft konstruiert. „Analog zum Prinzip des traditionellen Kompass nutzen wir einen drehbaren molekularen Zeiger“, erklären sie. Wenn dieses Molekül in den Einfluss von Van-der-Waals-Kräften gerät, richtet es sich in Richtung der stärksten Wirkung aus. „Indem wir dann die Orientierung dieser Zeigermoleküle präzise bestimmen, sehen wir das von den umgebenden Atomen gebildete Van-der-Waals-Kraftfeld.“
Xylol-Molekül als Kompassnadel
Konkret besteht der neuartige Van-der-Waals-Kompass aus einem Para-Xylol-Molekül. Diese organische Verbindung besteht aus einem Benzolring mit zwei anhängenden Methylgruppen (-CH3), die einander gegenüber stehen. Dadurch ähnelt das Molekül schon von Natur aus dem zweispitzigen Zeiger einer Kompassnadel.
Im Experiment brachten die Forscher diese Zeigermoleküle in die winzigen Kanäle eines FSM5-Zeolithkristalls ein. Für diese Aluminiumsilikate ist typisch, dass sie ein regelmäßiges, von Poren und Kanälen durchzogenes Gerüst bilden. Deshalb werden sie in unzähligen technischen und chemischen Anwendungen als Katalysatoren, Ionenaustauscher oder Absorptionsmittel eingesetzt – auch in Geschirrspülmaschinen und Wärmespeicherheizungen stecken diese Zeolithe.
Chen und sein Team schleusten jeweils ein Kompassmolekül in einen der Zeolith-Kanäle ein und nutzten eine spezielle Variante der Transmissions-Elektronenmikroskopie, um die Ausrichtung des Para-Xylols sichtbar zu machen.
Ausrichtung zeigt Stärke und Richtung der Kräfte
Die Aufnahmen enthüllten, dass sich die Zeigermoleküle tatsächlich auf bestimmte Weise ausrichteten. „Das Molekül hat eine energetisch bevorzugte Orientierung, die von den Van-der-Waals-Wechselwirkungen mit den umliegenden Silizium und Sauerstoffatomen abhängt – es dreht sich daher wie der Zeiger des klassischen Kompass“, berichten Chen und seine Kollegen. Die langen Enden des Xylols richten sich dabei so aus, dass die Interaktionsenergie mit den umgebenden Kraftfeldern möglichst gering bleibt.
Welche Richtung dies ist, hängt dabei von den Abständen und der Anordnung der umliegenden Atome im Zeolith-Kristall ab. „Die Orientierung der Xylol-Moleküle zeigt uns sowohl die räumliche Verteilung als auch die Echtzeit-Veränderungen der Van-der-Waals-Wechselwirkungen in den Kanälen solcher porösen Systeme an“, so die Wissenschaftler.
Nach Ansicht von Chen und seinem Team eröffnet dieser Van-der-Waals-Kompass damit eine ganz neue Möglichkeit, diese Kraft auch in komplexeren Systemen sichtbar zu machen und zu messen. (Nature, 2021; doi: 10.1038/s41586-021-03429-y)
Quelle: Nature