Bodenfliesen mit Mathematik: Seit 137 Jahren zieren zwei mathematische Formeln den
Fliesenboden der Röntgen-Gedächtnisstätte in Würzburg. Doch was sie bedeuten, war längst in Vergessenheit geraten – auf den ersten Blick erscheinen sie sogar unsinnig. Das Geheimnis hinter diesen Formeln hat nun ein australischer Mathematiker wieder gelüftet.
Der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen ist heute für seine Entdeckung der nach ihm benannte Strahlung weltberühmt. Kein Wunder, dass sein Labor im ehemaligen Physikalischen Institut der Universität Würzburg bis heute eine Pilgerstätte für wissenschaftliche interessierte Touristen ist. Unter ihnen war auch Tony Bracken, ein emeritierter Mathematikprofessor aus Australien.
Rätselhafte trigonometrische Formeln
Bei seinem jüngsten Besuch in der Röntgen-Gedächtnisstätte jedoch weckte etwas seine Neugierde: „Mir fielen zwei seltsame trigonometrische Formeln auf, die am westlichen Eingang des Gebäudes in den Boden eingraviert waren“, berichtet Bracken. „sin (y)sin (y/2)=1.3685 sin (x)sin (x/3)“ und „sin (x)sin (x/3)+sin (y)sin (y/3)+0.4375=0“ ist dort am Rand der Bodenfliesen zu lesen.
Was aber bedeuten sie? Selbst der Mathematiker konnte sich dies nicht auf Anhieb erklären: „Für mich sahen sie nach Unsinn aus. Aber vielleicht haben sie ja eine Bedeutung im Zusammenhang mit der Forschung, die damals in dem Gebäude betrieben wurde“, sagt er. Auf der Suche nach einer Lösung für dies Rätsel wandte sich Bracken an die Universität Würzburg. Dort konnte man ihm allerdings nicht weiterhelfen.
Hilfe auf internationalen Umwegen
Auf der Suche nach einer Antwort veröffentlichte Tony Bracken die Formeln in einen Brief im Magazin „Physics World“ der Zeitschrift des British Institute of Physics. Er bat darin seine Kollegen um Hilfe bei der Klärung ihrer mathematischen Bedeutung. Und tatsächlich: „Mich hat daraufhin ein englischer Physiker im Ruhestand kontaktiert, der seinerseits Kollegen in Deutschland befragt hatte“, berichtet Bracken.
Wie sich herausstellte, war die wahre Bedeutung der beiden Formeln früher durchaus bekannt, dann aber wieder in Vergessenheit geraten. Bereits 1971 hatte der Autor Ernst Nöth in der Main-Post einen Artikel zum mathematisch-historischen Hintergrund der Formeln veröffentlicht. Doch erst die Recherche des australischen Mathematikers brachte diesen Artikel aus den Archiven wieder zum Vorschein.
Formel für das Fliesenmuster
Des Rätsels Lösung: Die mathematischen Formeln haben nichts mit Röntgens Forschung zu tun, dafür aber umso mehr mit seinem damaligen Institut. Denn sie bilden die mathematische Grundlage für das Muster der Bodenfliesen in dem Gebäude. Vinzenz Strouhal, Assistent von Röntgens Vorgänger am Institut für Physik, hatte die Bodenfliesen um 1875 entworfen und ließ dabei die dem Muster zugrundeliegenden Formeln gleich mit in die Fliesen integrieren.
Wofür die Formeln genau stehen, ermittelte die Würzburger Mathematikerin Anja Schlömerkemper mit Hilfe des Programms Mathematica. Dieses stellt die von den Formeln vorgegebenen Kurven grafisch dar. Und tatsächlich: „Die Formel, in der 0.4375 vorkommt, entspricht dem Ornament auf den äußeren Fliesen. Die andere Formel mit 1.3685 entspricht dem Muster auf den inneren Fliesen“, erklärt Schlömerkemper.
Damit ist das Geheimnis der Formeln – wieder – gelüftet. Die Geschichte ihrer erneuten Entschlüsselung demonstriert, dass Zeitungsartikel zwar schnell vergessen werden, in Keramik gebrannte Mathematik aber überdauert. Die beiden Formeln überstanden immerhin die Zeit von der Fertigstellung des Gebäudes im Jahr 1879 bis heute unbeschadet – trotz Generationen von Studenten, Assistenten und Professoren, die über sie hinweg gelaufen sind.
(Julius-Maximilians-Universität Würzburg, 14.12.2016 – NPO)