Vorsichtiges Aufatmen: Forscher haben eine wichtige Information über die Reaktorkerne im Atomkraftwerk Fukushima gewonnen. Demnach enthält die hochradioaktive Brennstoffschmelze wahrscheinlich noch immer genügend neutronenabsorbierendes Bor, um eine atomare Kettenreaktion zu verhindern. Denn im Fallout der Atomkatastrophe finden sich nur geringe Bor-Rückstände, wie Messungen erstmals belegen. Dieses Wissen ist entscheidend, wenn die Reaktorkerne entsorgt werden sollen.
Mehr als zehn Jahre nach der Atomkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ist das Innere der Reaktoren noch immer eine Todeszone. Weil es in drei Reaktorkernen zu einer Kernschmelze kam, sind die Brennstäbe samt Teilen der Betonwände und Begleitstrukturen miteinander verschmolzen. Zwar ist dieses hochradioaktive Material dank Kühlung inzwischen erstarrt und halbwegs stabil. Es strahlt aber so stark, dass selbst Spezialroboter erst vor kurzem erstmals in die Reaktorkerne vordringen konnten.
Wo ist das Bor geblieben?
Dadurch fehlt jedoch eine entscheidende Information: Wie viel Neutronenabsorber in Form von Borcarbid (B4C) noch in den Reaktorkernen enthalten ist. Dieses Material wird in Atomkraftwerken dazu eingesetzt, die bei den radioaktiven Zerfällen gebildeten schnellen Neutronen abzubremsen und zu absorbieren. Dadurch wird verhindert, dass es zu einer unkontrollierbaren Kettenreaktion kommt. Beim Erdbeben am 11. März 2011 fielen diese Kontrollstäbe zwischen die Brennstäbe der drei Reaktoren, wurden aber bei der Kernschmelze zerstört.
Doch wie viel Bor-Absorber noch in den geschmolzenen Reaktorkernen verblieben ist, ist unklar. Denn bei Temperaturen von bis zu 2.000 Grad könnte ein beträchtlicher Teil des Bors gemeinsam mit Teilen des Kernmaterials verdampft sein. Deshalb ist unbekannt, wie nah die hochradioaktiven Reste an einer Kettenreaktion sind und ob das Material bei der späteren Entsorgung des Brennmaterials möglicherweise wieder kritisch werden könnte.
„Außerdem ist Borcarbid sehr hart und könnte daher zu Problemen bei der mechanischen Zerlegung der Brennstoffreste führen“, erklären Kazuki Fueda von der Universität Kyushu und seine Kollegen.
Spurensuche im Fallout
Um mehr Klarheit zu schaffen, hat sich das Forschungsteam den radioaktiven Fallout der Reaktorkatastrophe näher angeschaut. Denn wenn Bor in größerem Maße verdampft ist, müsste es sich an den cäsiumreichen Mikropartikeln niedergeschlagen haben, die bei der Atomkatastrophe aus den Reaktoren entwichen sind. „Die Analyse dieser in der Umgebung von Fukushima Daiichi deponierten Mikropartikel könnte daher wichtige Hinweise auf das Verhalten des Bors bei den Kernschmelzen liefern“, so das Team.
Für ihre Studie nahmen die Forschenden Bodenproben in rund zwei Kilometer Entfernung vom Atomkraftwerk und untersuchten die darin enthaltenen radioaktiven Mikropartikel auf ihre chemische Zusammensetzung und ihren Isotopengehalt hin. Anhand des relativen Anteils der Bor-Isotope 11Bor und 10Bor konnten sie feststellen, ob Bor aus den Kontrollstäben der Reaktorkerne enthalten ist und wie viel.
Noch genug Absorber im Reaktorkern
Das Ergebnis: „Es gibt klare Belege für eine teilweise Verdampfung der Borcarbid-Kontrollstäbe und auch für die Freisetzung von 10Bor in die Umwelt“, berichten Fueda und seine Kollegen. Allerdings nicht viel: Den Analysen und ergänzenden Berechnungen zufolge wurden weniger als 70 Gramm Bor aus den Reaktorkernen freigesetzt. Angesichts von ursprünglich 680 Kilogramm Bor in Reaktor 1 und jeweils 960 Kilogramm in den Reaktorblöcken 2 und 3 sei diese Menge verschwindend gering, so die Wissenschaftler.
„Das könnte bedeuten, das noch fast das gesamte Bor der Kontrollstäbe in den Reaktorkernen erhalten geblieben ist“, sagt Koautor Gareth Law von der Universität Helsinki. Zum ersten Mal gebe es damit Anhaltspunkte dafür, wie groß das Risiko für eine kritische Kettenreaktion in den Brennstoffresten von Fukushima noch sein könnte.
Risiken bleiben
Für die Arbeiten am havarierten Atomkraftwerk und den künftigen Rückbau wären dies gute Nachrichten. Allerdings schließen die Wissenschaftler nicht aus, dass ein Teil des verdampften Bors möglicherweise noch im Gebäude wieder niedergegangen ist und sich daher nicht in den Borgehalten der Fallout-Partikel widerspiegelt. Zudem müsse man davon ausgehen, dass Bor und Kernbrennstoff in den geschmolzenen Klumpen nicht gleichmäßig verteilt sind.
„Auf der Ebene der Brennstoffpellets könnte es daher noch zu einer Re-Kritikalität kommen“, erklären Fueda und seine Kollegen. Vor Beginn einer Entsorgung der Kernschmelzenrelikte müsse man daher unbedingt prüfen, wie heterogen das Bor in der Masse verteilt sei. (Journal of Hazardous Materials, 2022; doi: 10.1016/j.jhazmat.2022.128214)
Quelle: University of Helsinki