Unsichtbares sichtbar gemacht: Forscher haben erstmals die Struktur der sogenannten Halogenbindung sichtbar gemacht – einer Brückenbindung zwischen zwei elektronegativen Atomen, die sich eigentlich abstoßen müssten. Diese Bindung wird nur möglich, weil das Halogenatom eine ungleiche Elektronenverteilung entwickelt. Genau dieses „Sigma-Loch“ haben die Wissenschaftler nun erstmals direkt sichtbar gemacht und so die Theorie nach fast 50 Jahren bestätigt.
Neben den klassischen chemischen Bindungen, durch die Atome zu Molekülen werden, existieren in der Chemie noch weitere verbindende Kräfte in Form von Brückenbindungen. Sie verändern zwar nicht die chemische Natur der Atome, sind aber wichtig, um Moleküle oder Molekülverbände zu stabilisieren. Bei Wasserstoffbrückenbindungen sorgen dabei Ladungsverschiebungen innerhalb der Moleküle dafür, dass zwischen den beteiligten Atomen eine Anziehung entsteht.
Brückenbindung statt Abstoßung
Doch es gibt noch eine Form der Brückenbindung, die lange Zeit Rätsel aufgab. Denn diese sogenannte Halogenbindung widerspricht auf den ersten Blick allen Regeln der Chemie. Bei ihr entsteht die Kopplung nicht zwischen Atomen mit unterschiedlichen Teilladungen, sondern zwischen zwei stark elektronegativen Atompartnern. „Der enge Kontakt zwischen diesen Atomen müsste theoretisch eine elektrostatische Abstoßung bewirken“, erklären Teamleiter Pavel Jelinek vom CATRIN-Forschungszentrum in Prag und seine Kollegen.
Seltsamerweise bleibt die Abstoßung aber aus und Halogen-Atome wie Brom, Chlor oder Iod bilden Brückenbindungen mit elektronegativen Partnern. Eine Erklärung für diese „unmögliche“ Bindung lieferte schon vor fast 50 Jahren die Theorie eines „Sigma-Lochs“. Nach dieser verschieben sich die Elektronenorbitale des Halogenatoms so, dass sie einen negativen Ring bilden. Dadurch entsteht am „Pol“ des Atoms eine positive Zone, die die Bindung mit einem negativen Partner ermöglicht – das Sigma-Loch.
Xenon-Atom als Elektronensensor
Dass es dieses Sigma-Loch tatsächlich gibt und wie es aussieht, haben nun Jelinek und sein Team erstmals direkt sichtbar gemacht. Zuvor konnten Chemiker nur indirekt auf die Existenz dieser homogenen Elektronenverteilung schließen. Die direkte Abbildung gelang dem Team nun mithilfe eines Kelvinsonden-Kraftmikroskops. Bei dieser Technik tastet eine aus nur einem Atom bestehende Spitze die Oberfläche in geringem Abstand ab. Dabei reagiert sie auf elektrostatische Anziehungskräfte im Atommaßstab mit winzigen Auslenkungen.
„Wir haben die Sensitivität unserer Kelvinsonde verbessert, indem wir als Messpitze ein einzelnes Xenon-Atom verwendeten“, erklärt Jelineks Kollege Bruno de la Torre. Als Testobjekt nutzten die Forscher bromiertes Tetraphenylmethan – eine Verbindung aus vier Kohlenwasserstoff-Ringen, an deren Enden jeweils ein Halogenatom sitzt. Der Theorie zufolge sollen die Bromatome einer solchen Verbindung eine deutliche inhomogene Elektronenverteilung aufweisen.
Auf einer Oberfläche aufgebracht, stehen diese Moleküle zudem wie kleine Dreibeine aufrecht und richten eines ihrer Halogenatome senkrecht nach oben. „Diese Anordnung erleichterte es uns, das Sigma-Loch des Halogenatoms mithilfe des Spitzenatoms unserer Sonde direkt zu untersuchen“, erklären die Wissenschaftler.
Ringförmige Ladungsverschiebung enthüllt Sigma-Loch
Tatsächlich enthüllten die Analysen eine auffallend doughnutförmige Konzentration der Elektronen um das Bromatom. Wie eine Art Schwimmring konzentrierte sich die negative Ladung an den Seiten des Atoms, während die Spitze eine deutlich positive Zone aufwies. „Als sich dieses Loch zum ersten Mal sah, war ich zunächst skeptisch, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass wir die Auflösungsgrenze des Mikroskops bis in die subatomare Ebene verschoben hatten“, erläutert de la Torre.
Doch weitere Messungen bestätigten dies. Damit ist es dem Forschungsteam zum ersten Mal gelungen, das lange vorhergesagte Sigma-Loch direkt sichtbar zu machen und damit das Geheimnis der Halogenbindung zu lüften. Jelinek vergleicht dies mit dem ersten Foto eines Schwarzen Lochs, das ebenfalls erstmals ein postuliertes Konstrukt direkt abbildete. „Wenn man es in dieser Hinsicht betrachtet, ist es keine Übertreibung, wenn ich die Abbildung des Sigma-Lochs als vergleichbaren Meilenstein für die atomare Ebene bezeichne“, so der Forscher.
Neue Möglichkeiten für Chemie, Physik und Materialforschung
Nach Ansicht der Wissenschaftler eröffnet die Fähigkeit, diese Elektronenverschiebungen sichtbar zu machen, neue Möglichkeiten, die Wechselwirkungen zwischen Atomen und Molekülen zu erforschen. Das wiederum könnte wertvolle neue Erkenntnisse für Chemie, Materialforschung, aber auch Biologie und Medizin erbringen. (Science, 2021; doi: 10.1126/science.abk1479)
Quelle: Institute of Organic Chemistry and Biochemistry of the Czech Academy of Sciences (IOCB)