Erbliche Formen der geistigen Behinderung wurden bislang vor allem mit genetischen Variationen auf dem X-Chromosom in Verbindung gebracht. Jetzt ist es Forschern aber gelungen, einen Gendefekt auf dem Chromosom 8 zu identifizieren, der ebenfalls diese Folgen hat. Sie berichten über ihre Studie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „American Journal of Human Genetics“.
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Bis heute konnten Wissenschaftler mehr als 80 Gene identifizieren, die auf dem X-Chromosom liegen und geistige Behinderung verursachen können, wenn sie irgendwelche Defekte aufweisen. Doch vermutlich können nur zehn Prozent aller Krankheitsfälle durch diese X-chromosomalen Veränderungen erklärt werden. Den weitaus größeren Teil der Gene, deren Defekte zu Schäden bei höheren Hirnfunktionen führen können, vermuten Wissenschaftler auf den „Nicht-Geschlechts-Chromosomen“, den so genannten Autosomen.
Blutsverwandte Eltern gesucht
Doch solche vererbten Formen der geistigen Behinderung wurden bislang nur wenig untersucht. Sie kommen vor allem in Familien vor, deren Eltern blutsverwandt sind. Für die Untersuchung der entsprechenden Erkrankungen sind darüber hinaus Paare mit vielen Kindern beziehungsweise mehreren betroffenen Kindern erforderlich. Da solche Familienstrukturen in den Industrieländern nur selten vorgefunden werden, sind bislang nur vier Gene bekannt, die autosomal rezessiv vererbt werden und bei Mutation geistige Behinderung verursachen.
Genmutation identifiziert
Die Wissenschaftler der Abteilung Molekulare Humangenetik am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin arbeiten aber nun seit mehr als fünf Jahren mit dem Genetic Research Center der Universität Teheran zusammen, um große Familien mit blutsverwandten Eltern zu untersuchen, in denen gehäuft Fälle von unspezifischer geistiger Behinderung aufgetreten sind.
In einer dieser Familien fanden sie nun eine Mutation des Gens TUSC3, die zu dessen fast vollständigem Funktionsverlust führt. Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass die Veränderung des TUSC3-Gens tatsächlich die Ursache für die geistige Behinderung der untersuchten Patienten ist. Unterstützt wird ihre Schlussfolgerung durch den Befund einer französischen Gruppe von Wissenschaftlern, die in einer anderen Familie bei Patienten mit der gleichen Form von geistiger Behinderung ebenfalls eine Mutation in diesem Gen gefunden hat.
Welche Funktion hat das TUSC3-Gen?
Unklar ist für die Forscher bislang, welche Funktion das TUSC3-Gen im Körper hat. Sie vermuten, dass das Gen beziehungsweise das von ihm kodierte Protein ein bestimmtes Enzym beeinflusst, die Proteinphosphatase 1. Dieses Enzym spielt eine Rolle im Zusammenhang mit Lern- und Gedächtnisleistungen.
„Wir nehmen daher an, dass ein Verlust von TUSC3 durch eine gestörte Enzymfunktion geistige Behinderung verursachen kann“, erklärt Andreas Kuss, Leiter des Teams, das die Untersuchungen durchgeführt hat. Die funktionelle Charakterisierung der bisher wenig bekannten Genprodukte steht im Fokus der weiteren Forschungsarbeiten, die für die klinisch orientierte Humangenetik von großer Bedeutung sind. Denn etwa zwei Prozent der Bevölkerung sind in Industrieländern von einer geistigen Behinderung betroffen.
Doch die molekularen Grundlagen solcher Störungen aufzuklären, ist nicht nur aus medizinischer Sicht bedeutsam: „Unsere Arbeit trägt auch zu einem besseren Verständnis der funktionellen Zusammenhänge bei, welche die Voraussetzung für kognitive Leistungen des menschlichen Gehirns bilden“, so der Humangenetiker Kuss.
(MPG, 05.05.2008 – DLO)