Wie von Geisterhand: Das Wundermaterial Graphen entfaltet unter Wärmeeinfluss eine geradezu unheimliche Aktivität. Ganz von allein bilden sich erst Falten und Risse im zweidimensionalen Kohlenstoffnetz, dann klappt plötzlich eine Kante um und kriecht langsam vorwärts. Diese ungewöhnliche Selbstorganisation könnte sich nutzen lassen, um gezielt Nanostrukturen zu erzeugen, meinen die Forscher im Fachmagazin „Nature“.
Graphen gilt als Material mit geradezu wunderbaren Eigenschaften. Denn das nur eine Atomlage dicke Netz aus Kohlenstoffatomen ist härter als Stahl und trotzdem biegsam, es leitet Elektronen nahezu verlustfrei und könnte daher als Baumaterial, für ultradünne Displays, Leseköpfe von Quantencomputern und viele andere Anwendungen eingesetzt werden.
Ein unerwarteter Riss
James Annett und seine Kollegen vom Trinity College in Dublin haben jetzt eine weitere ungewöhnliche Eigenschaft des Graphens entdeckt: Es ist auf unerwartete Weise zur Selbstorganisation und Formveränderung fähig. Dies zeigte sich, als die Forscher einlagige Graphenschichten auf einer Wärmeplatte bis auf 150 Grad erwärmten und dann tagelang sich selbst überließen.
Als die Wissenschaftler nach 13 Tagen wieder nachschauten, hatte sich das Graphen zu ihrer Überraschung wie von Geisterhand verändert: Statt einer ebenen, unbeschädigten Schicht prangte nun mittendrin ein fünf Mikrometer großer Riss. Von diesem hatte sich ein Graphenstreifen gelöst und bildete eine Art Klappe oder Umschlag.
Formveränderung – von selbst
Wie war dies zu erklären? „Aus bisherigen Untersuchungen weiß man, dass thermische Aktivität bei Graphen lokale Falten erzeugen kann“, berichten Annett und seine Kollegen. Aber offensichtlich war hier sehr viel mehr passiert. Um diese für Graphen bisher unbekannte Formveränderung näher zu untersuchen, führten die Forscher nun gezielt einen Versuch durch – diesmal unter ständiger Observierung des Geschehens mit Hilfe eines Rasterkraft-Mikroskops.
Um den Anstoß zu geben, stanzten Annett und seine Kollegen ein winziges dreieckiges Loch in eine einlagige Graphenschicht und beobachteten, was dann geschah. Und tatsächlich: Sowohl bei Raumtemperatur als auch unter Wärmezufuhr entfaltete das Graphen ein unheimliches Eigenleben. „Unserer Experimente zeigen, dass die thermische Aktivierung zu spontanem Gleiten, Reißen und Abpellen des Graphens führen kann“, berichten die Forscher.
Kriechen, reißen, gleiten
Die Mikroskop-Aufnahmen enthüllten, dass sich von den Kanten des eingestanzten Lochs langsam Graphenstreifen aufrollten und sich über die umgebende Fläche schoben. Auf diese Weise bildete sich im Laufe der Zeit von selbst eine Art dreizackiger Stern. Typischerweise formten sich diese Umschläge dabei im rechten Winkel zum bestehenden Riss oder der Kante.
„Die Streifen reißen spiegelsymmetrische, gerade Risspfade in das Graphen, jeder wird dabei in einem Winkel von sechs Grad leicht nach außen hin enger“, berichten die Forscher. „Einige dieser Streifen wurden bis zu fünf Mikrometer lang.“ Je wärmer die Umgebung war, desto schneller und ausgeprägter liefen Rissbildung und Umklappen ab.
Thermodynamik als Antrieb
Um herauszufinden, warum sich das Graphen so verhält, rekonstruierten die Forscher das Phänomen in einem physikalischen Modell. Dabei zeigte sich: Das Reißen und Kriechen lässt sich durch das Bestreben des Graphens erklären, einen energieärmeren, dreidimensionalen Zustand einzunehmen. Das einlagige Kohlenstoffgitter klappt um, um doppellagig zu werden und der umgeklappte Streifen wächst und kriecht dann so lange weiter, bis ein Gleichgewicht erreicht ist.
Nach Ansicht von Annett und seinen Kollegen könnte sich dieses neuentdeckte Verhalten des Graphens in der Nanotechnologie praktisch nutzen lassen. „Dieses Gleiten und Falten könnte es ermöglichen, neue Strukturen und Anwendungen dieses zweidimensionalen Materials durch Selbstorganisation zu schaffen“, sagen die Forscher. Statt mittels Nanolithographie könnte man die gewünschten Muster dann einfach durch dieses von selbst eintretende Nano-Origami produzieren. (Nature, 2016; doi: 10.1038/nature18304)
(Nature, 14.07.2016 – NPO)