Manchmal entpuppt sich die Ausnahme als Regelfall – etwa wenn sich die Natur an Gesetze hält, die eigentlich nicht gelten dürften. Auf einen solchen Fall sind jetzt Max-Planck-Forscher gestoßen und berichten darüber in der Fachzeitschrift „Physical Review Letters“. Die Physiker haben festgestellt, dass aus Flüssigkeiten bekannte Phänomene auch in Komplexen Plasmen aus Mikropartikeln und ionisiertem Gas auftreten und zudem Gesetzen gehorchen, die eigentlich für Flüssigkeiten gemacht sind.
Mit diesen hydrodynamischen Gesetzen können die Wissenschaftler die Instabilität, die zu der Entstehung von Tropfen, Blasen und kleine Fontänen in den Plasmen führt, beschreiben. Erst kurz zuvor hatten andere Forscher des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik in solchen Plasmen ein Phänomen beobachtet, das sich als Extremfall der Hydrodynamik begreifen lässt – die Linienbildung. Sie tritt auch in einer Fußgängerzone auf, wenn die in entgegengesetzte Richtung gehenden Menschen in Ketten aneinander vorbei laufen. Ihre Beobachtungen könnten das Verständnis erleichtern, wie sich nanoskopische Flüssigkeitsmengen etwa in einem Labor verhalten, das auf einen Mikrochip passt.
Regentropfen in einer Wolke
Regentropfen in einer Wolke, Benzinnebel in einem Autozylinder, Öl in einer Pipeline, aber auch Luft, die wirbellos an einem Auto vorbeiströmt, sind das Terrain der Hydrodynamik. Aber wenn sich eine Luftströmung an einer Karosserie oder hinter einem Flugzeug in Turbulenzen auflöst, versagt sie. Auch Fluide, die bei einer Analyse durch nanoskopische Kanäle auf einem Mikrochip strömen, sollten sich außerhalb des Geltungsbereichs der Hydrodynamik bewegen. Denn das physikalische Verhalten eines Nanotröpfchens sollte vielmehr von seinen Grenzflächen bestimmt werden als es bei einem größeren Tropfen der Fall ist, wo die Kräfte zwischen den Flüssigkeitsteilchen dominieren.
„Doch manchmal gilt die Hydrodynamik auch da, wo sie nicht angewendet werden darf“, sagt Robert Sütterlin, der an den Arbeiten maßgeblich beteiligt war. Dafür jedenfalls sprechen die Erkenntnisse der Forscher des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik.
Die Wissenschaftler haben zwar keine nanoskopischen Flüssigkeiten untersucht – die lassen sich im Detail auch kaum studieren -, aber ein sehr gutes Modell für solche Flüssigkeiten, nämlich Komplexe Plasmen. „Wir haben darin Blasen, Tropfen oder Kleckse und Fontänen beobachtet“, sagt Mierk Schwabe, die die Experimente vorgenommen hat: „Und wir haben festgestellt, dass sich diese sehr gut mit Phänomenen in makroskopischen Systemen vergleichen lassen.“ Obwohl die Komplexen Plasmen ein Modell für Nanoflüssigkeiten abgeben und die Hydrodynamik eigentlich nur für größere Flüssigkeitsmengen gilt.
„Komplex“ durch Mikroteilchen
Komplexe Plasmen enthalten wie ein gewöhnliches Plasma, das auch in einer Leuchtstofflampe brennt, positive Edelgasionen, Elektronen und ungeladenes Hintergrundgas. „Komplex“ wird das Plasma allerdings erst durch Mikroteilchen, wenige Mikrometer messende Plastikkügelchen, die die Physiker in die Versuchskammer strömen lassen. Auf diese kommt es bei den Experimenten der Physiker an: An die Teilchenoberfläche setzen sich Elektronen, die in Myriaden durch die Versuchskammer des Experiments schwirren. Daher laden sich die Partikel stark negativ auf, so dass sie sich gegenseitig abstoßen. Dabei verhalten sie sich wie die einzelnen Teilchen einer Flüssigkeit oder eines Festkörpers. Allerdings mit einem für Physiker sehr nützlichen Unterschied: Wenn die Mikroteilchen beleuchtet werden, sind sie anders als Wassermoleküle mit bloßem Auge gut sichtbar. Zudem lassen sich ihre Bewegungen mit einer Kamera filmen.
So konnte Schwabe verfolgen, wie in der Wolke der schwebenden Teilchen Blasen aufstiegen, wenn sie in der Kammer einen bestimmten Gasdruck und einen passenden Temperaturunterschied zwischen Boden und Decke einstellte. In anderen Fällen kräuselte sich die Oberfläche der Wolke zunächst wie die Oberfläche eines Sees im Wind, bis sich schließlich einzelne Tropfen lösten oder kleine Fontänen hervorsprudelten. Und in diesen Tropfen beobachtete Schwabe, wie die Teilchen in gegenläufigen Wirbeln zirkulieren – auch von Wassertropfen sind solche Zirkulationen bekannt.
Mikroteilchen stoßen sich ab
Da nichts in der Welt ohne Ursache passiert, suchen Schwabe und ihre Kollegen eine Kraft, die die Bewegungen – die Physiker sprechen von Störungen und Instabilitäten – in der Teilchenwolke hervorruft. „Bislang können wir dazu nur Vermutungen anstellen“, sagt Schwabe: „Möglicherweise übt eine vom thermischen Kriechfluss verursachte Gaskonvektion die treibende Kraft aus.“ Die Atome des Edelgases kriechen bei niedrigem Druck an der Kammerwand entlang von der kühlen Decke zum heißen Boden. In der Mitte der Kammer können sie dann zurück zur Decke aufsteigen und so die Mikroteilchen in Wallungen bringen.
Alle Phänomene lassen sich mit dieser treibenden Kraft alleine nicht erklären. „Einige unserer Beobachtungen deuten darauf hin, dass Komplexe Plasmen eine Oberflächenspannung besitzen“, sagt Schwabe. Die Oberflächenspannung hält einen Tropfen am Wasserhahn, bis sein Gewicht zu groß wird und er abreißt. Sie zieht den Tropfen aber auch zu seiner runden Form zusammen. Verursacht wird sie durch die anziehenden Kräfte zwischen den Wassermolekülen. Die Mikroteilchen eines Komplexen Plasmas ziehen sich aber nicht an, sondern stoßen sich ab.
Oberflächenspannung in Komplexen Plasmen
Hinweise auf eine Oberflächenspannung in Komplexen Plasmen haben bereits andere Physiker gefunden. Erklären können sie das Phänomen bislang aber nicht endgültig. „Möglicherweise verursacht die Ionenreibung die Oberflächenspannung“, sagt Schwabe. „Doch ob es Oberflächenspannung in Komplexen Plasmen überhaupt gibt, wird seit 15 Jahren diskutiert“, so Schwabe: „Manche Messungen sprechen dafür, andere dagegen.“
Während für die Tropfen, Blasen und Fontänen, die Schwabe beobachtet hat, auf der Hand lag, sie mit hydrodynamischen Phänomenen zu vergleichen, hat Sütterlin erst im Laufe seiner Untersuchungen festgestellt, dass seine Beobachtungen den atomaren Grenzfall derselben hydrodynamischen Instabilität (Rayleigh-Taylor) darstellen. Nach der Anleitung seines Teams haben russische Kosmonauten auf der Internationalen Raumstation eine Wolke von Mikropartikeln, die im Durchmesser 3,4 Mikrometer messen, in eine Wolke größerer Teilchen, nämlich mit einem Durchmesser von 9,2 Mikrometern, getrieben. „Ungefähr so als würden in einer Fußgängerzone Menschen in entgegengesetzter Richtung aneinander vorbei laufen“, sagt Sütterlin.
Mikropartikel im Gänsemarsch
Wie die Fußgänger in einer nicht allzu dicht gedrängten Fußgängerzone im Gänsemarsch hintereinander her gehen, strömen auch die kleineren Mikropartikel in Linien durch die Wolke der größeren Teilchen, die ihrerseits durch die kleinen Partikel in Reihen gezwungen werden. Diese Linienbildung ist nicht nur von Fußgängerzonen bekannt, sondern auch von Wasser, das über Öl geschichtet wird und dann wegen seiner höheren Dichte fingerartig in das Öl sinkt.
Dass die Linienbildung auf den Aufnahmen, die seine russischen Kollegen von dem Plasmaexperiment an Bord der ISS machten, deutlich zu erkennen ist, reicht Sütterlin jedoch nicht, und würde auch noch keine Einsichten in die Dynamik dieses physikalischen Prozesses bieten. Daher hat Sütterlin in einen Zahlenwert gefasst, wie akkurat sich die Teilchen hintereinander aufreihen. Folgerichtig heißt dieser Wert Ordnungsparameter.
Mathematisches Radar
Um den Ordnungsparameter zu ermitteln, setzt der Garchinger Physiker auf jedes Mikroteilchen eine Art mathematischen Radar. Dieses mathematische Instrument erkennt das Muster der Teilchen, also etwa, ob sie Linien bilden. Dazu nutzt der Formalismus die Abstände zwischen einem Teilchen und seinen nächsten Nachbarn, die er aus den Positionen der Teilchen auf einem Videobild des Experiments bestimmt. Außerdem berücksichtigt der Formalismus die Winkel zwischen Linien, die ein Teilchen mit seinen nächsten Nachbarn verbinden.
Mit diesem Werkzeug haben die Wissenschaftler bislang erst einige Sekunden des Experiments analysiert, nämlich wie die Wolke kleiner Teilchen durch jene der größeren Partikel strömt. Die Analyse zeigte, dass die größeren Partikel auch dann noch Anzeichen einer linearen Ordnung zeigen, wenn die Mikropartikel ihre Wolke längst verlassen haben. Mit dem neu entwickelten Instrumentarium werden die Garchinger Forscher nun den Rest des Films untersuchen, den die russischen Kosmonauten von dem Experiment gedreht haben – insgesamt immerhin rund eine halbe Stunde.
„Wir haben schon gesehen, dass dabei noch einige interessante Phänomene auftreten“, so Sütterlin. Phänomene, die möglicherweise auch neue Erkenntnisse über Nanoflüssigkeiten und Oberflächenspannung in Komplexen Plasmen liefern.
Experimente im Komplexen Plasma
Um Komplexe Plasmen als Modell für eine Flüssigkeit zu nutzen, müssen die Garchinger Forscher die Schwerkraft aufheben – diese zieht die im Vergleich zu Molekülen riesigen Mikroteilchen in die Randschicht des Plasmas, wo sie von einem elektrischen Feld in der Schwebe gehalten werden, und sie sedimentieren wie Sand am Meeresgrund. Um das zu verhindern und die ganze Experimentkammer mit Komplexem Plasma zu füllen, machen die Garchinger Physiker einen Teil ihrer Experimente in Schwerelosigkeit an Bord der internationalen Raumstation ISS. Oder sie kompensieren die Schwerkraft mit einem Trick – wie etwa Schwabe es gemacht hat.
Die Physikerin hat den Boden der Versuchskammer auf 95 Grad Celsius geheizt. Aus dem Temperaturunterschied zwischen Boden und Decke der Kammer ergibt sich die thermophoretische Kraft, die die Teilchen in künstlicher Schwerelosigkeit hält: Die Teilchen unterhalb eines Kügelchens bewegen sich wegen ihrer höheren Temperatur schneller als jene oberhalb. Daher übertragen sie auf das Mikroteilchen einen größeren Impuls, wenn sie mit ihm zusammenstoßen. So schubsen sie es in die Höhe; thermophoretische Kraft und Schwerkraft heben sich auf.
Thermischer Kriechfluss
Der große Temperaturunterschied zwischen Boden und Decke der Plasmakammer bewirkt auch einen anderen Effekt: den thermischen Kriechfluss. Dieser tritt bei einem niedrigen Gasdruck an den vertikalen Wänden der Kammer auf, entlang derer ein Temperaturunterschied besteht. Gasteilchen, die von unten auf einen Punkt der Wand treffen, übertragen auf diese einen größeren Impuls als die Teilchen, die von oben auf denselben Punkt treffen – der Grund liegt wiederum in der unterschiedlich starken thermischen Bewegung der oberen und unteren Teilchen. Daher überträgt das Gas auf die Wand unterm Strich einen Impuls, der zur kälteren Seite gerichtet ist. Doch jeder Impuls provoziert einen Gegenimpuls. Daher strömt Gas zur warmen Seite, um den Impuls in Richtung kalter Seite zu kompensieren. Dieser Gasfluss entlang der äußeren Wände kann in der Mitte der Kammer eine Strömung des Gases zurück nach oben auslösen, die wiederum eine Kraft auf die Mikroteilchen ausübt.
Wie die Garchinger Forscher auch schon in Experimenten an Bord der ISS festgestellt haben, entsteht in der schwebenden Teilchenwolke ein Hohlraum – die Physiker sprechen von einem Void. Er bildet sich, weil das Edelgas durch eine angelegte Wechselspannung im Radiofrequenzbereich zum Plasma ionisiert wird. Die Elektronen, die dabei freigesetzt werden, setzen sich nicht nur auf die Mikropartikel, sondern auch an die Wände der Versuchkammer. Dorthin ziehen sie die positiven Ionen an, die im Inneren der Kammer entstehen, so dass in der Kammer ein stetiger Ionenwind vom Zentrum nach außen bläst und die Teilchen verdrängt – allerdings nur so weit, wie es die elektrischen Kräfte, die auf die Mikroteilchen wirken, zulassen.
Ionenwind als Bremse
Die positiven Ionen verursachen möglicherweise auch die Oberflächenspannung im Komplexen Plasma – auf einen Tropfen der negativen Mikrokugeln etwa strömen sie von allen Seiten ein und üben eine Kraft auf den Tropfen aus. Wie bei einem Luftballon könnte ihre einschließende Kraft die Teilchen zusammenhalten. Die Oberflächenspannung, die einen Wassertropfen krümmt und zusammenhält, beruht dagegen auf den anziehenden Kräften zwischen den Wassermolekülen.
Die Ionenreibung wirkt umso stärker, je größer die Teilchen sind. Daher öffnet sich in einer Wolke aus kleineren Partikeln ein kleinerer Hohlraum als in größeren Partikeln. Das nutzen die Garchinger Physiker beziehungsweise die Kosmonauten auf der ISS, um die Situation in einer Fußgängerzone nachzuahmen: Sie füllen die Versuchskammer mit größeren Partikeln, in denen sich ein Hohlraum bildet. Nun lassen sie vom Rand der Kammer kleinere Teilchen einströmen. Die Mikropartikel laden sich sofort stark negativ auf und werden in die Mitte der Kammer, wo die positive Ladung am stärksten ist, gezogen, bis der Ionenwind sie aufhält. Das geschieht bei den kleineren Partikeln aber erst, nachdem sie im Hohlraum der größeren Teilchen angelangt sind.
(Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, 07.09.2009 – DLO)