Mithilfe eines Lasers schlüsseln Forscher die dynamischen Vorgänge auf, die sich im Inneren von Lawinen oder Murgängen abspielen. Ihre Hoffnung: dadurch eines Tages eine „Lawinenformel“ zu entdecken, die unter anderem vorhersagt, wann die besonders gefährliche, so genannte granulometrische Sortierung der Partikel droht. Diese Kenntnis ist nicht nur für die Vorhersage von Naturkatastrophen, sondern auch für industrielle Anwendungsgebiete vom Raketentriebwerk bis zum Lebensmittel wichtig.
Lawinen und Murgänge gehören zu den Risiken, denen Gebirgsregionen wie die Schweiz besonders stark ausgesetzt sind. Für die Sicherheit dieser Regionen wären numerische Modelle wünschenswert, die die Gefahrenzonen mit höchster Präzision bestimmen könnten. Doch wer solche Modelle entwickeln will, muss zunächst die Dynamik dieser Naturereignisse besser verstehen. Genau das ist die Aufgabe, der sich die Forschungsgruppe um Christophe Ancey mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) am Labor für Umwelthydraulik der ETH Lausanne widmet.
Mischung aus Flüssigkeit und Granulat
Bei Lawinen und Murgängen handelt es sich um komplexe Fluide, die sich im einen Fall aus Luft und Schneepartikeln, im anderen aus Wasser und Gesteinspartikeln zusammensetzen. In beiden Fällen weisen dabei die festen Bestandteile unterschiedliche Größen auf. Während des Abflusses interagiert das Strömungsmittel mit den Partikeln, was dazu führt, dass ein einzelner Abgang sich zunächst wie eine Flüssigkeit und später wie Granulat verhalten kann. Dies führt zu einem wohlbekannten, aber noch wenig verstandenen und noch weniger vorhersagbaren Phänomen, bei dem sich Phasen der Bewegung und Phasen des Stillstands abwechseln.
Alptraum Lawinenzungen
Auch die Partikel wirken aufeinander ein. Dadurch ändert sich das Fließverhalten. So geschieht es manchmal, dass sich die großen Partikel von den kleineren abscheiden – man spricht in diesem Zusammenhang von granulometrischer Sortierung – und sich an den Rändern anhäufen. Diese Randwälle kanalisieren die Lawine in eine oder mehrere Zungen. Hierdurch wird sie seitlich begrenzt und legt daher eine deutlich weitere Strecke zurück, selbst auf relativ flachem, grundsätzlich wenig gefährdetem Gelände: ein Alptraum für diejenigen, die das Gebiet in Gefahrenzonen einteilen sollen.
Angesichts der Komplexität des Phänomens wählte Ancey eine Salamitaktik und teilte das große Problem in verschiedene kleinere auf. Dafür führte die Forschungsgruppe unter anderem ein so genanntes Staudammbruch-Experiment durch. Am höchsten Punkt eines abfallenden Kanals hält eine Schleuse ein Gemisch aus Flüssigkeit und festen Partikeln zurück. Beim Öffnen der Schleuse stürzt die künstliche Lawine den Kanal hinab. Ein Laser beleuchtet den Abfluss in einer Ebene. Mithilfe von Kameras können die Ingenieure so die Bewegungen der Partikel verfolgen. Im vorliegenden Fall gilt ihr Interesse den Vorgängen im Frontbereich des Abflusses.
Lawinenformel gesucht
Ancey hofft, im Laufe seiner Forschungstätigkeit immer komplexere Experimente durchführen zu können und dadurch eines Tages eine «Lawinenformel» zu entdecken. Er beeilt sich aber, zu ergänzen, dass das Verständnis dieser Phänomene nicht nur für Spezialisten im Bereich Naturkatastrophen von Interesse ist, sondern ebenso für die Industrie: So stand der Lawinenspezialist schon im Kontakt mit einem Nahrungsmittelgroßkonzern und einem Hersteller von Raketentriebwerken, um nur zwei beispielhafte Wirtschaftsbereiche zu nennen, in denen unerwünschte granulometrische Phänomene die Qualität, Leistungsfähigkeit oder Sicherheit der Produkte beeinträchtigen können.
(Schweizerischer Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung SNF, 12.04.2011 – NPO)