Psychologie

Moral: Wie viel zählt der Einzelne?

Entscheidungen bei einem klassischen Moral-Dilemma sind von Land zu Land verschieden

Trolley-Problem
In diesen drei Szenarien geht es um die Frage, ob man eine Person opfern würde, um fünf andere zu retten – ein klassisches Moral-Dilemma. © Awad et al., /PNAS

Ist es akzeptabel, einen Menschen zum Wohle mehrerer zu opfern? Oder ihn dafür sogar umzubringen? Die Antwort auf dieses ethische Dilemma ist weniger universell als man denkt, wie nun die bisher größte Studie dazu enthüllt. Demnach halten zwar die meisten Menschen ein solches Opfer für legitim. In einigen Ländern jedoch ist der Anteil derjenigen, die ein solches Opfer billigen, auffallend geringer, wie die Forscher berichten.

Wenn es um Ethik und Moral geht, ist dies das ultimative Dilemma-Szenario: Ein herannahender Zug droht fünf Menschen zu überfahren. Sie können dies jedoch verhindern, wenn Sie eine Weiche umlegen. Dann fährt der Zug auf ein Nebengleis und tötet dort nur eine Person. Würden Sie diesen Menschen opfern, um die fünf anderen zu retten? Und wie wäre es, wenn Sie den Zug nur aufhalten könnten, wenn Sie den Einzelnen aktiv von einer Brücke auf die Gleise schubsen müssten?

Keine universellen Regeln

Dieses Szenario klingt konstruiert, doch gerade in Bezug auf autonomes Fahren ist es realistisch – und hochaktuell. Denn ein computergesteuertes Fahrzeug muss im Ernstfall genau solche Entscheidungen fällen: Schützt es bei einem drohenden Unfall seinen Fahrer? Oder opfert es diesen, wenn dafür mehrere Fußgänger gerettet werden? Und ab wann zählen die Fußgänger mehr? Studien mithilfe interaktiver Online-Szenarien belegen, dass sich auch Menschen bei diesen Fragen keineswegs immer einig sind.

Typischerweise halten es die meisten Menschen es beim klassischen Bahn-Szenario für akzeptabel, die Weiche umzustellen und damit eine Person zugunsten der fünf zu opfern. Deutlich größer aber sind die Hemmungen beim zweiten Szenario: Weit weniger Testteilnehmer wären bereit, eine Person aktiv in den Tod zu stürzen, um die anderen zu retten – das gilt weltweit. Allerdings hängt der Grad der Akzeptanz auch von kulturellen Faktoren ab und sogar die Sprache, in der man den Test absolviert, kann eine Rolle spielen.

Zufallsopfer ist akzeptabler als aktives Töten

Doch wie groß sind die kulturellen Unterschiede? Und spielt auch die Nationalität dafür eine Rolle? Um das herauszufinden, haben Edmond Awad vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) und seine Kollegen nun die bisher umfangreichste Studie zu diesen Moral-Dilemma durchgeführt. Dabei präsentierten sie 70.000 Online-Probanden in 42 Ländern und zehn Sprachregionen die beiden klassischen Bahnszenarien und ein dem ersten verwandtes drittes Szenario.

Das Ergebnis: Wie erwartet, zeigte sich auch in dieser Studie eine deutliche Abstufung zwischen den Szenarien. Der zufällige Tod einer Person durch die Weichenumstellung wird weltweit am ehesten akzeptiert – im Schnitt 81 Prozent der Probanden billigten diese Aktion. Das aktive Töten einer Person zum Wohle der fünf Gleisgänger fanden dagegen nur noch 51 Prozent der Teilnehmer akzeptabel.

Das belege, dass es hierbei eine universelle Abstufung gebe, sagen die Forscher: Die Bereitschaft, den Tod eines Menschen in Kauf zu nehmen, ist weltweit größer, als den Tod eines Menschen zu instrumentalisieren.

Länder-Ergebnisse
Länderspezifische Ergebnisse für die drei Szenarien. © Awad et al. /PNAS

Auffallende Länderunterschiede

Doch vergleicht man die Reaktionen in einzelnen Ländern miteinander, gibt es durchaus Unterschiede, wie Awad und sein Team berichten. In Deutschland beispielsweise hielten 82 Prozent der Teilnehmer das erste Szenario für akzeptabel, ähnlich hoch waren die Zustimmungswerte in anderen europäischen Ländern und in den USA. Die aktive Tötung einer Person zum Wohle der vielen fanden in Deutschland 49 Prozent richtig, in den USA und Großbritannien sogar noch rund 60 Prozent.

Anders dagegen sah es in den asiatischen Ländern aus: In China beispielsweise würden nur 58 Prozent der Teilnehmer die Weiche im ersten Szenario umstellen. Eine Person von der Brücke stoßen würden nur 32 Prozent, wie die Studie ergab. Entgegen den Annahmen ist dies aber nicht im gesamten asiatischen Kulturkreis so: In Vietnam, Indien und Singapur ähnelten die Akzeptanzwerte fast denen in Europa, in China Taiwan und Japan dagegen waren sie deutlich niedriger.

Sozialgefüge prägt die Entscheidung

Woran liegt das? Die Forscher vermuten, dass die Reaktion auf dieses Moral-Dilemma stark von der sogenannten Beziehungs-Mobilität beeinflusst wird. Diese gibt an, wie häufig Menschen im Laufe ihres Lebens neue Beziehungen und Freundschaften eingehen und wie leicht dies auch außerhalb der traditionellen Sozialgefüge wie der Familie oder dem Kollegenkreis gelingt. Typischerweise ist diese Beziehungs-Mobilität in den westlichen Ländern hoch, in China oder Japan dagegen deutlich geringer.

Die aktuellen Ergebnisse legen nahe, dass Menschen in Ländern mit geringer Beziehungs-Mobilität eher vor einer kontroversen oder unpopulären Entscheidung zurückschrecken. Denn das könnte ihrem Ansehen in ihrem eher unflexiblen Sozialgefüge schaden. „Die Menschen befürchten möglicherweise, dass sie als ‚Monster‘ wahrgenommen werden könnten, wenn sie bereit sind, das Leben eines Menschen für das Allgemeinwohl zu opfern“, sagt Awads Kollege Iyad Rahwan.

„Es ist noch zu früh, um einen klaren, kausalen Zusammenhang zwischen den moralischen Entscheidungen der Menschen und der Leichtigkeit, mit der sie neue Beziehungen eingehen, herzustellen“ sagt Rahwan. „Es gibt jedoch vermehrt Anzeichen dafür, dass die Art und Weise, wie das persönliche Ansehen in einer bestimmten Kultur gepflegt wird, die moralischen Intuitionen der Menschen aus dieser Kultur beeinflussen kann.“ (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.1911517117)

Quelle: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

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