Physik

Myon liefert Indizien für neue Physik

Anomales magnetisches Moment des Teilchens zeigt Abweichungen vom Standardmodell

Speicherring
Blick in einen Teil des Myonen-Speicherrings – hier haben Physiker beim anomalen magnetischen Moment dieses Elementarteilchens Abweichungen zum Standardmodell gemessen. © Fermilab

Spannende Diskrepanz: Das Myon – der schwere Bruder des Elektrons – verhält sich anders als es sollte, wie aktuelle Messungen des Myon-g-2-Experiments bestätigen. Demnach weicht das anomale magnetische Moment des Elementarteilchens um 4,2 Standardabweichungen von dem im physikalischen Standardmodell vorhergesagten ab. Das könnte darauf hindeuten, dass das Myon mit noch unerkannten Teilchen oder Kräften wechselwirkt.

Das Myon ist extrem kurzlebig und rund 200-mal massereicher als sein „Cousin“, das Elektron. Doch wie diese besitzen auch Myonen ein magnetisches Moment. In einem von außen einwirkenden Magnetfeld führen Wechselwirkungen dazu, dass die Richtung dieses internen Magneten leicht schwankt – ähnlich dem leichten Taumeln der Erdachse durch die Präzession. Dieser sogenannte g-Faktor lässt sich auf Basis von Ladung, Masse und Spin des Myons exakt berechnen.

Myon g-2
Das Myon-g-2-Experiment am Fermilab in den USA. © Fermilab

Verräterisches Taumeln

Doch es gibt eine Anomalie: Bei seinem Flug durch ein externes Magnetfeld interagiert das Myon mit Quantenfluktuationen, durch die in seinem Weg ständig Teilchenpaare quasi aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden. Diese Interaktionen verändern den g-Faktor um einen geringen Wert – das sogenannte anomale magnetische Moment. Nach dem Standardmodell der Physik müsste diese Anomalie den Wert von a = 116.591.810(43) x 10-11 haben.

Aber schon vor gut 20 Jahren ergaben Messungen am Brookhaven National Laboratory in den USA Abweichungen von diesem Sollwert. Damals lagen die im Myon-g-2-Experiment ermittelten Diskrepanzen bei rund 3,7 Standardabweichungen – zu wenig, um als sichere Entdeckung zu gelten. Dafür war auch die Präzision der Messungen nicht ausreichend. Seither untersuchen Physiker, ob diese Abweichung real oder die Folge systematischer Unsicherheiten in Theorie und Experiment ist.

Abweichung steigt auf 4,2 Sigma

Jetzt gibt es neue, genauere Messdaten dazu. Sie wurden am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) gewonnen, das eine neue, präzisere Version des Myon-g-2-Experiments betreibt. Dabei werden einheitlich polarisierte Myonen in einen ringförmigen Speicherring von 14,20 Meter Durchmesser eingespeist. Unter dem Einfluss eines starken Magnetfelds zirkulieren sie im Ring, während ihr magnetisches Moment und die Ausrichtung ihres Spins gemessen werden.

Ergebnisse
Die Ergebnisse des Myon-g-2-Experiments im Vergleich zu denen aus Brookhaven und dem theoretischen Sollwert. © Fermilab

Das Ergebnis dieser Messungen: Das im Experiment ermittelte anomale magnetische Moment des Myons liegt bei a = 116.592.040(54) x 10-11. Die Messunsicherheit liegt bei nur noch 460 zu einer Milliarde, wie die Myon g-2 Kollaboration berichtet. Damit weicht der neue Messwert um 4,2 Standardabweichungen – 4,2 Sigma – von dem im Standardmodell vorhergesagten ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Abweichung zwischen Experiment und Theorie zufällig ist, beträgt nur noch 0,0025 Prozent (1 in 40.000).

Damit liegt die Diskrepanz zur Theorie nur knapp unter dem Wert, ab dem Physiker von einer Entdeckung sprechen – in diesem Fall einer klaren Widerlegung des Standardmodells. Dafür müsste der Sigma-Wert fünf erreichen, was einer Zufallswahrscheinlichkeit von weniger als 0,00003 Prozent entspricht.

Erklärungslücke im Standardmodell

„Das ist ein unglaublich spannendes Ergebnis“, sagt Ran Hong vom Argonne National Laboratory. Denn die neuen Messungen legen nahe, dass es eine Erklärungslücke im Standardmodell gibt. Offenbar interagiert das Myon auf seinem Flug durch das Magnetfeld nicht nur mit den erwarteten Quantenfluktuationen, sondern wird zusätzlich von einem noch unbekannte Faktor beeinflusst – möglicherweise von noch unbekannten Teilchen oder Kräften.

„Der Wert, den wir messen, reflektiert die Wechselwirkungen des Myons mit allem anderen im Kosmos. Aber wenn Theoretiker den gleichen Welt berechnen und dafür alle bekannte Teilchen und Kräfte berücksichtigen, bekommen wir nicht die gleiche Antwort“, sagt Renee Fatemi von University of Kentucky. „Das ist ein starkes Indiz dafür, dass das Myon auf etwas reagiert, das in unserer bisher besten Theorie nicht enthalten ist.“

Das Myon-g-2-Experiment und seine neuen Ergebnisse.© Fermilab

Der Großteil der Daten wartet noch auf seine Auswertung

Die aktuellen Ergebnisse beruhen auf den Daten für rund acht Milliarden Myonen, die 2018 im Myon-g-2-Experiment erhoben wurden. Doch schon jetzt arbeiten die Physiker an der Auswertung von 2019 und 2020. Sie sind daher zuversichtlich, dass sich die Präzision und Signifikanz ihres Ergebnisses noch erhöhen wird. „Bisher haben wir erst sechs Prozent aller Daten ausgewertet, die das Experiment insgesamt erfassen wird“, erklärt Chris Polly vom Fermilab. „Wir werden daher in den nächsten Jahren mehr erfahren.“

Zudem sind bereits weitere Experimente unter anderem in Japan geplant, die das anomale magnetische Moment des Myons über andere Methoden ermitteln und so eine unabhängige Bestätigung liefern könnten. Schon jetzt scheint aber klar, dass sich die Hinweise auf mögliche Lücken im Standardmodell häufen. So haben Physiker am CERN kürzlich auch beim Zerfall des Beauty-Quarks Abweichungen gegenüber dem Standardmodell gefunden. (Physical Review Letters, 2021; doi: 10.1103/PhysRevLett.126.141801)

Quelle: DOE/ Argonne National Laboratory, American Physical Society (APS), University of Massachusetts

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