Blick in hochradioaktive Anlagen: Forscher haben erstmals das Innere eines Atomreaktors mithilfe von 3D-Myonen-Scans sichtbar gemacht. Weil diese schnellen, überall auf die Erdoberfläche treffenden Elementarteilchen vom Reaktormaterial unterschiedlich stark absorbiert und abgelenkt werden, können sie ähnlich einer Tomografie das Innere eines nicht betretbaren Reaktorkerns abbilden, wie ein Test an einem stillgelegten französischen Atomkraftwerk ergab.
Ob Fukushima, Tschernobyl oder für den Rückbau vorgesehene Atomkraftwerke bei uns: Atomreaktoren sind selbst nach dem Abschalten oder einem Atomunglück noch Jahrzehnte lang hochradioaktiv. Ihr Zustand kann daher nicht durch einfache Begehungen ermittelt werden – in Fukushima versagten selbst Erkundungsroboter in den am stärksten verstrahlten Bereichen. Umso wichtiger ist es, andere Methoden zu finden, mit denen man sich ein Bild des Reaktorinneren machen kann.
Myonen als Kartierungshelfer
Eine dieser Methoden ist eine Durchleuchtung mithilfe von Myonen. Diese Elementarteilchen sind rund 200-mal schwerer als ein Elektron und entstehen, wenn energiereiche kosmische Strahlung auf die obere Erdatmosphäre trifft. Im Schnitt treffen rund 10.000 fast lichtschnelle Myonen pro Minute auf jeden Quadratmeter der Erdoberfläche. Dank ihrer geringen Größe und hohen Energie können sie selbst massiven Beton, Stahl oder Gestein durchdringen, werden dabei aber zum Teil absorbiert und abgelenkt.
Das macht es möglich, Myonen als passive Kartierungshelfer zu nutzen: Platziert man um ein Bauwerk mehrere Myonen-Detektoren, verrät das Muster der eintreffenden Teilchen, ob es im Inneren Hohlräume und andere Strukturen gibt. Archäologen haben solche Myonen-Scans bereits genutzt, um verborgene Kammern und Gänge in der Cheops-Pyramide zu finden. In Fukushima wurden mit einer 2D-Version solcher Scans erste Hinweise auf den Zustand der havarierten Reaktoren gewonnen.
Kern eines stillgelegten Atomreaktors als Test
Jetzt haben Sébastien Procureur von der Universität Paris-Saclay und seine Kollegen erstmals genauer untersucht, ob Myonen-Scans auch ein dreidimensionales Bild vom Inneren eines Reaktorkerns liefern können. Ähnlich wie bei einer Röntgentomografie müssen dafür die von den Detektoren eingefangenen zweidimensionalen Teilchenmuster mithilfe eines speziellen Algorithmus zu einem 3D-Bild zusammengesetzt werden.
Als Testreaktor wählte das Team den G2-Atomreaktor im französischen Marcoule. Dieser Atomreaktor wurde 1980 stillgelegt und wartet nun auf seinen Rückbau. In dem 34 Meter langen und 20 Meter dicken Reaktorkern wurde Uran als Kernbrennstoff und Graphit als Moderator verwendet. „Der Graphit-Moderator bildet eine nahezu kubische Struktur von rund neun Meter Kantenlänge, die von 1.200 horizontalen Schächten für die Brennstäbe durchsetzt ist“, erklären die Wissenschaftler.
Tomografie enthüllt Inneres
Für ihren Myon-Scan stellten Procureur und sein Team vier 50 x 50 Zentimeter große Myonen-Detektoren an wechselnden Positionen unter und neben dem Reaktorblock auf. „Ab März 2021 haben wir so in 1.100 Detektortagen und aus 27 verschiedenen Perspektiven insgesamt rund 370 Millionen Myonen eingefangen“, berichten sie. Ein von ihnen entwickelter Algorithmus generierte daraus ein 3D-Abbild des Reaktorkern-Inneren, ohne zuvor die Baupläne oder den Grundaufbau der Anlage zu kennen.
Das Ergebnis: „Trotz seiner Komplexität und großen Ausmaße konnte das Reaktor-Innere in relativ kurzer Zeit und mit guter Qualität rekonstruiert werden“, berichten die Forschenden. Die Myon-Scans zeigten die Form und grobe Struktur des großen Graphitblocks, der als Moderator diente, den Betonsockel, die Rohrleitungen für das Kühlsystem und sogar einige Verteilerkappen für Kabel im Außenbereich des Reaktorkerns.
Auflösung noch deutlich steigerbar
„Dies ist wahrscheinlich das komplexeste und größte Objekt, das je mithilfe von Myonen dreidimensional kartiert wurde“, konstatieren Procureur und seine Kollegen. Obwohl jeder Myonen-Detektor jeweils nur rund drei Tage an einer Messposition stand, reichte die Teilchendichte immerhin für eine Auflösung von wenigen Dutzend Zentimetern. Würde man mehr und größere Teilchendetektoren einsetzen, ließe sich das aber noch deutlich steigern, wie das Team erklärt.
Nach Ansicht der Wissenschaftler eröffnet die computergestützte Myonen-Tomografie damit neue Möglichkeiten, auch Atomreaktoren zu kartieren und zu überwachen – sowohl während ihrer Laufzeit als auch nach der Stilllegung oder nach Atomunfällen. (Science Advances, 2023; doi: 10.1126/sciadv.abq8431)
Quelle: American Association for the Advancement of Science (AAAS)