Nach gut 70 Jahren erstmals nachgewiesen: Deutsche Chemiker haben zum ersten Mal eine sogenannte neutrale homoaromatische Verbindung erzeugt. Diese organischen Moleküle haben ähnlich wie Benzol und andere aromatische Kohlenwasserstoffe delokalisierte Bindungselektronen, ihr Ring ist aber nicht geschlossen. Die Synthese dieser homoaromatischen Verbindungen eröffnet nun neue Möglichkeiten, diese exotische Molekülklasse zu erforschen, und hat auch Potenzial für praktische Anwendungen.
Aromatische Verbindungen sind ringförmige Moleküle, in denen die Bindungselektronen zwischen den Atomen nicht fest zugeordnet sind – sie bilden delokalisierte Orbitale, die um den gesamten Ring herumreichen. Dies ist meist dann möglich, wenn sich Einfach- und Doppelbindungen zwischen den Atomen abwechseln, wie im Benzolring der Fall. Nach der sogenannten Hückel-Regel muss eine aromatische Verbindung zyklisch und planar sein und (4n + 2) delokalisierte π-Elektronen besitzen.
Schätzungen zufolge sind rund zwei Drittel aller bekannten chemischen Verbindungen ganz oder teilweise aromatisch. Neben vielen organischen Kohlenwasserstoffen haben Chemiker auch Aromaten aus Metallatomen und kürzlich sogar erstmals aus sechs Stickstoffatomen erzeugt.
Delokalisierte Elektronen trotz Lücken im Ring
Doch theoretischen Modellen zufolge gibt es eine weitere Molekülklasse mit delokalisierten π-Elektronen: die sogenannten homoaromatischen Verbindungen. Bei diesen wechseln sich Einfach- und Doppelbindungen nicht regelmäßig ab, dadurch ist der Ring aus π-Orbitalen nicht geschlossen. Trotzdem können die eigentlich räumlich getrennten π-Elektronen in solchen homoaromatischen Molekülen miteinander wechselwirken und die Lücke überwinden – sie bauen ein Kreissystem auch ohne passende Bindung auf.
In der Theorie wurde die Existenz solcher homoaromatischen Verbindungen schon vor mehr als 70 Jahren vorhergesagt. Praktisch nachgewiesen haben Chemiker jedoch bisher nur einige geladene, ionische Homoaromaten. Der eindeutige Nachweis und die Synthese neutraler homoaromatischer Moleküle standen dagegen noch aus. Dieser Durchbruch ist nun Trung Tran Ngoc von der Technischen Universität Chemnitz und seinen Kollegen erstmals gelungen.
Vom Naphtalin zum homoaromatischen Molekül
Für die Synthese der neuen Homoaromaten nutzten die Chemiker als Ausgangsstoff Dihydronaphthalin, einen aromatischen Kohlenwasserstoff mit zehn Kohlenstoff- und zehn Wasserstoffatomen. Bei diesem lösten sie durch Anlagerung weiterer Verbindungen zunächst die äußere Doppelbindung auf und sorgten dann in den folgenden Reaktionsschritten für mehrere Umlagerungen und Erweiterungen des Moleküls. Endergebnis der Synthesekette waren zehnatomige Moleküle, darunter das sogenannte Homoannulin-Ester.
Analysen des Homoannulin-Esters und einiger weiterer eng verwandter Moleküle bestätigten, dass es sich dabei um neutrale homoaromatische Verbindungen handelt: Die π-Elektronen sind delokalisiert und die Bindungslängen von Einfach- und Doppelbindungen haben sich einander angeglichen – beides sind entscheidende Kriterien für Aromaten, wie die Chemiker erklären.
„Durchbruch für die organische Chemie“
„Mit dieser bahnbrechenden Entdeckung konnten wir ein fundamentales Problem der Chemie lösen: Wir haben erstmals nachgewiesen, dass es die neutralen homoaromatischen Verbindungen in der organischen Chemie überhaupt gibt“, sagt Seniorautor Johannes Teichert von der TU Chemnitz. „Das ist nicht weniger als ein Durchbruch für die organische Chemie – auch, weil wir diese Verbindungen zum ersten Mal mit ihren individuellen Eigenschaften charakterisiert haben.“
Anders als bei früheren Ansätzen sind die von den Chemikern synthetisierten neutralen Homoaromaten zudem stabil und zerfallen nicht sofort wieder. „Damit können wir nun zum ersten Mal die molekularen Wechselwirkungen innerhalb der homoaromatischen Verbindungen erforschen und vor allem systematisch verändern“, erklärt Ngoc. Dies ermögliche die Entwicklung neuer Materialien oder Wirkstoffe, die beispielsweise als „Ersatzbausteine“ für klassische aromatische Moleküle genutzt werden könnten.
Homoaromat als photochemischer Schalter
Einer dieser neuen Homoaromaten, das Homoannulin-Ester, erwies sich zudem als photochemisch aktiv: Bei Bestrahlung mit Licht einer bestimmten Wellenlänge wechselte das Molekül seine Struktur und wandelte sich in eine zweite homoaromatische Verbindung um. „Dieses photochemische Re-Arrangement ist reversibel, wenn man es mit einer 455-Nanometer LED-Lichtquelle bestrahlt“, berichten die Chemiker. „Dies macht Homoannulin-Esther zu einem neuartigen photochemischen Schalter.“
Solche „Photoschalter“ spielen unter anderen in der Medizin und Biomedizin eine wichtige Rolle. Durch diese Schalter können zum Beispiel Wirkstoffe im menschlichen Körper gezielt von außen durch Licht angeregt werden, um so deren Wirkungsmechanismus an Ort und Stelle aktivieren und untersuchen zu können. (Nature Chemistry, 2023; doi: 10.1038/s41557-022-01121-w)
Quelle: Technische Universität Chemnitz