Gekoppelt: Seit 140 Jahren kommen in der chemischen Industrie sogenannte Aryldiazoniumsalze zum Einsatz, obwohl diese hochexplosiv und damit gefährlich sind. Nun haben Wissenschaftler durch Zufall einen alternativen Syntheseweg entdeckt, um dieselben Produkte durch eine sicherere Kombination zweier Reaktionen herzustellen. Wie sie in „Science“ berichten, könnten damit künftig auch ganz neue chemische Reaktionen möglich sein. Wie funktioniert das?
In der Geschichte der chemischen Industrie und Forschung kam es immer wieder zu schlimmen Unfällen mit teils tödlichem Ausgang. Ursache dafür waren oft giftige oder explosive Chemikalien, die zur Herstellung anderer Komponenten unerlässlich waren. Dazu zählen auch die Aryldiazoniumsalze, die seit 140 Jahren genutzt werden, um beispielsweise Farbstoffe herzustellen. Diese Chemikalien sind sehr reaktiv und dadurch für die Produktion anderer Verbindungen äußerst nützlich.
Zugleich sind isolierte Aryldiazoniumsalze jedoch sehr instabil und können daher auch ungewollt explodieren. Bei einer besonders schweren Explosion mit diesen Chemikalien wurde 1969 bei einer Firma in Basel sogar ein ganzes Gebäude zerstört. Drei Arbeiter verloren damals ihr Leben, 31 weitere wurden schwer verletzt. Trotz solcher Unfälle wird weiterhin mit diesen Salzen gearbeitet – auch, weil es bisher keine sicherere Alternative gibt.
Wie hantiert man mit explosiven Salzen?
Einem Team um Javier Mateos vom Max-Planck-Institut (MPI) für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr ist es nun gelungen, die risikobehaftete Arbeit mit Aryldiazoniumsalzen deutlich sicherer zu machen. Sie entwickelten ein neues Verfahren, das den Einsatz dieser Verbindungen deutlich weniger gefährlich macht.
„Normalerweise erfolgt die Nutzung von Diazoniumsalzen in zwei Schritten: Man isoliert oder akkumuliert erst das Diazoniumsalz, was gefährlich ist, und setzt es dann in einem zweiten, separaten Schritt zu seinem gewünschten Produkt um“, erklärt Koautor Tim Schulte vom MPI für Kohlenforschung. Für den ersten Schritt werden die Aryldiazoniumsalze mit salpetriger Säure oder mit Nitrit-Verbindungen aus Anilinen gewonnen. Diese Reaktion muss bei niedrigen Temperaturen unter fünf Grad Celsius durchgeführt werden, da die Salze sonst zu instabil sind.
Kombinationsverfahren: Sicherer und billiger
Die Chemiker haben nun einen Weg gefunden, die niedrigen Temperaturen und starken Säuren zu umgehen. Dafür kopierten sie den natürlichen Prozess der Nitratreduktion aus Pflanzen und kombinierten diesen mit der bisherigen Aryldiazoniumchemie. Dadurch werden die gefährlichen Substanzen zwar weiterhin genutzt, aber nicht mehr in größeren Konzentrationen angehäuft, sondern direkt weiterverbraucht.
„In unserem Projekt kombinieren wir die beiden Syntheseschritte und gehen zum gewünschten Produkt, ohne das Diazoniumsalz zu akkumulieren, was das Risiko einer Explosion deutlich reduziert“, erklärt Schulte.
Praktischerweise ist der neue Syntheseweg zudem günstiger, weil er auf billigere Rohstoffe setzt: Statt wie bisher Nitritverbindungen zu protonieren, werden gängige Nitratsalze und Nitratester reduziert. „Wir nutzen für unsere Synthesemethode Chemikalien, die in großen Mengen in der Düngemittel- und Kraftstoffindustrie verwendet werden und damit günstig zu bekommen sind“, sagt Schulte. Für Chemiefirmen bedeutet das neue Verfahren daher niedrigere Produktionskosten.
Zufallsfund eröffnet neue Möglichkeiten
„Die Lösung für das Problem hätte eigentlich schon vor 100 Jahren gefunden werden können“, sagt Seniorautor Tobias Ritter vom Mülheimer MPI. Denn die eingesetzten Reagenzien sind schon seit langer Zeit bekannt. Doch ihr Potenzial für die Diazoniumchemie wurde schlicht übersehen – bis jetzt. „Die Kombination an Chemikalien wurde durch Zufall entdeckt, während wir an einem anderen Projekt gearbeitet haben“, verrät Mateos.
„Allerdings würde man die Reaktion, so wie sie jetzt entdeckt wurde, wohl eher nicht planen“, gibt Ritter zu bedenken. Denn Restrisiken bleiben. Dank der verringerten Explosionsgefahr könnten mit der neuen Methode jetzt allerdings endlich ganz neue chemische Ansätze verfolgt werden, hoffen die Chemiker. Mit der klassischen Methode sei das nicht denkbar gewesen. (Science, 2024; doi: 10.1126/science.adn7006)
Quelle: Max-Planck-Institut für Kohlenforschung