Rückenmark überbrückt: Nach vier Jahren der vollständigen Lähmung kann Ian Burkhart nun seine rechte Hand wieder bewegen. Ermöglicht wird dies durch einen Neuro-Bypass: In sein Gehirn implantierte Elektroden lesen Bewegungsbefehle aus und senden sie über eine Elektrodenmanschette an seine Armmuskeln. Dies sei das erste Mal, dass ein Gelähmter auf diese Weise Kontrolle über seine eigenen Muskeln zurückbekommt, sagen die Forscher im Fachmagazin „Nature“.
Der 24-jährige Ian Burkhart ist ein klassischer Quadriplegiker: Mit 20 Jahren erlebte er einen Autounfall, der sein Rückenmark zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel durchtrennte. Als Folge war er seither vom Hals abwärts gelähmt und damit auf ständige Hilfe angewiesen. Zwar gelang es Forschern im letzten Jahr, Gelähmten durch eine Nervenverpflanzung wieder die Kontrolle der Arme zurückzugeben, doch dies funktioniert nur bei weiter unten liegenden Verletzungen des Rückenmarks.
Mehr Chancen bieten Methoden, bei denen die unterbrochene Verbindung zwischen Gehirn und Gliedmaßen durch Technik ersetzt wird. Dabei leiten ins Gehirn implantierte Elektroden Nervensignale ab, mit denen Gelähmte beispielsweise Roboterarme oder Gehhilfen steuern können. Affen nutzten diese Signale sogar bereits, um ihre gelähmten Armmuskeln zu kontrollieren.
Elektronik überbrückt Gehirn-Hand-Verbindung
Jetzt ist es erstmals gelungen, diese Technik auch auf einen gelähmten Menschen anzuwenden – auf Ian Burkhart. Dafür pflanzten Chad Bouton vom Batelle Memorial Institute in Columbus und seine Kollegen dem Gelähmten eine Reihe von Elektroden in die linke Seite seines motorischen Cortex – der Hirnregion, die die Bewegungen der rechten Hand steuert. Eine lernfähige Software verarbeitete die abgeleiteten Hirnsignale und schickte sie weiter an eine Manschette aus 130 Elektroden um den Unterarm von Burkhart.
Dieser Neuro-Bypass überbrückt damit die unterbrochene Nervenleitung vom Gehirn zu den Armmuskeln. Bis allerdings tatsächlich erste Handbewegungen möglich wurden, musste Burkhart 15 Monate lang trainieren. Dadurch lernten die Algorithmen, welche Signale für welche der geübten Bewegungen stehen.
Heben, greifen, drehen
Inzwischen beherrscht Burkhart dank dieses elektronischen Bypass-Systems sechs verschiedene Hand- und Fingerbewegungen. „Es ist erstaunlich, was er erreicht hat“, sagt Koautor Nicholas Annetta vom Batelle Memorial Institute. „Ian kann eine Flasche greifen, den Inhalt in eine Tasse gießen und die Flasche wieder zurückstellen. Dann hebt er einen Rührstab auf, rührt den Tasseninhalt um und legt den Stab wieder hin. Er kontrolliert dabei jeden Schritt dieser Sequenz.“
Wie die Forscher betonen, ist dies das erste Mal, dass ein Quadriplegiker auf diese Weise seine Bewegungsfähigkeit verbessert. Diese erste Demonstration belege, dass es möglich sei, ein durchtrenntes Rückenmark mit technischen Mitteln zu überbrücken und so Muskeln des gelähmten Körperteils zu steuern, sagen Bouton und seine Kollegen.
Hoffnung für Gelähmte weltweit
Für Ian Burkhart war die Erfahrung mit dem Neuro-Bypass ein neuer Anfang: „An dieser Forschung teilzunehmen, hat mich verändert, ich habe jetzt viel mehr Hoffnung für die Zukunft“, sagt er. „Jetzt habe ich aus erster Hand erlebt, dass es Fortschritte in Wissenschaft und Technik gibt, die mein Leben besser machen werden.“
Nach Ansicht der Forscher könnte die Technologie hinter diesem Bypass-System künftig auch anderen Gelähmten helfen. Bevor dieses System jedoch breiter eingesetzt werden kann, müssen Technik und Algorithmen erst noch weiter verfeinert werden, wie die Wissenschaftler betonen. Sie wollen nun den Bypass an weiteren Patienten erproben und planen, das Ganze sogar kabellos zu machen. (Nature, 2016:; doi: 10.1038/nature17435)
(Ohio State University Wexner Medical Center / Nature, 14.04.2016 – NPO)