Neutrinos können Materie nicht ungehindert passieren: Erstmals belegen Messungen des IceCube-Detektors, dass ein Teil dieser „Geisterteilchen“ von der Erde absorbiert wird. Je höher die Energie der Neutrinos ist, desto weniger von ihnen schaffen die Passage durch unseren Planeten, wie die Physiker im Fachmagazin „Nature“ berichten. Dieses Verhalten entspricht dem, was das Standardmodell der Physik für diese Teilchen vorhersagt – und widerspricht Spekulationen über eine neue Physik.
Neutrinos gelten als „Geisterteilchen“: Denn diese Elementarteilchen besitzen fast keine Masse und gehen nur äußerst selten eine Wechselwirkung mit anderer Materie ein. In jeder Sekunde rasen 100 Billionen Neutrinos durch unseren Körper, ohne dass wir dies spüren. Sie entstehen unter anderem in der Sonne, beim radioaktiven Zerfall von Elementen, aber auch bei kosmischen Ereignissen wie Supernovae oder Gammastrahlen-Ausbrüchen.
Mehr Kollisionen bei höherer Energie?
Doch der Theorie nach kommen selbst die Neutrinos nicht ganz ohne Kontakt mit der Materie durch: Das physikalische Standardmodell besagt, dass die Zahl der Kollisionen mit Atomen und damit die Absorptionsrate zunimmt, je höher die Energie eines Neutrinos ist. Im niedrigeren Energiebereich erhöht sich die Kollisionswahrscheinlichkeit dabei fast linear, bei Hochenergie-Neutrinos flacht die Kurve dagegen etwas ab – so die Theorie.
Ob das jedoch stimmt, ließ sich bisher nur für niedrige Energien bis etwa 370 Gigaelektronenvolt experimentell nachprüfen. Denn weiter reicht die Leistung der Teilchenbeschleuniger nicht. Ob Hochenergie-Neutrinos dem Standardmodell, folgen oder ob bei ihnen vielleicht sogar bisher unbekannte physikalische Prozesse zum Tragen kommen, blieb daher ungeklärt.
Flug durch die Erde
Jetzt liefern Daten des IceCube-Detektors in der Antarktis erstmals Informationen über diese „Terra incognita“ der Neutrinoforschung. Der Detektor besteht aus 5.160 Basketball-großen Sensoren, die an langen Kabeln in das antarktische Eis eingelassen sind. Zusammen bilden sie ein rund einen Kubikkilometer großes Detektorfeld, das das sogenannte Tscherenkow-Licht registriert – die winzigen Lichtblitze, die bei der Kollision eines Neutrinos mit einem Atom entstehen.
Der Clou dabei: Die Neutrinos rasen nicht nur von oben oder von der Seite durch das Eis, einige von ihnen kommen auch von unten. Sie treffen auf den Detektor, nachdem sie die Erde durchquert haben. Zudem kann IceCube auch extrem energiereiche Neutrinos detektieren. Um zu ermitteln, ob und wie viele dieser Hochenergie-Neutrinos beim Flug durch die Erde „hängenbleiben“, haben die Forscher 10.784 aufwärts gerichtete Neutrinosignale mit Energien von 6,3 bis 980 Teraelektronenvolt ausgewertet.
Durch Kollisionen absorbiert
Das Ergebnis: „Unsere Resultate zeigen zum ersten Mal, dass Neutrinos mit sehr hoher Energie von etwas absorbiert werden können – in diesem Fall von der Erde“, sagt Doug Cowen von der Pennsylvania State University. „Das ist etwas, das bisher noch nie experimentell nachgewiesen werden konnte.“
Den Daten nach gelangten deutlich weniger Hochenergie-Neutrinos von unten in den Detektor als von der Seite oder von oben. Je länger der Weg dieser Teilchen durch feste Materie war, desto mehr von ihnen wurden absorbiert. „Neutrinos haben den wohlverdienten Ruf, immer für eine Überraschung gut zu sein“, sagt der Sprecher der IceCube-Kollaboration Darren Grant. „Es ist daher unglaublich spannend, diese erste Messung zu erleben.“
Standardmodell bestätigt
Wie die Forscher berichten, entspricht die Absorptionsrate dabei etwa dem, was das das physikalische Standardmodell vorhersagt: Es zeigte sich ein eher langsamer Anstieg der Kollisionen mit zunehmender Energie der Neutrinos. „Einen dramatischen Anstieg, wie es einige Theorien neuer Physik jenseits des Standardmodells postulieren, haben wir dagegen nicht gesehen“, so die Wissenschaftler.
Für viele Physiker, die sich darin Hinweise auf Extradimensionen oder exotische Teilchen erhofft hatten, ist das aktuelle Ergebnis daher eher eine Enttäuschung. „Natürlich haben wir gehofft, dass Indizien für eine Neue Physik auftauchen“, sagt Francis Halzen von der University of Wisconsin-Madison. „Aber wie üblich hat das Standardmodell auch diesen Test bestanden.“
Doch noch ist eine Neue Physik nicht vollkommen ausgeschlossen: Sie könnte sich bei den Neutrinos mit den höchsten Energien verbergen. Diese Teilchen bewegen im Bereich von mehr als einem Petaelektronenvolt und werden nur extrem selten von den Detektoren eingefangen. Um auch ihr Verhalten zu untersuchen, wollen die IceCube-Forscher nun Daten von mehreren Jahren und allen 86-Detektorsträngen ihrer Anlage auswerten und dabei gezielt nach diesen Neutrinos suchen. (Nature, 2017; doi: 10.1038/nature24459)
(IceCube Collaboration, Nature, Penn State, 23.11.2017 – NPO)