Doppelt limitiert: Gleich zwei Neutrino-Observatorien liefern Daten, die den Raum für Teilchen und Wechselwirkungen jenseits des Standardmodells weiter einengen. So haben Physiker mit dem MicroBooNE-Experiment in den USA keine Spur einer vierten Neutrinosorte, den hypothetischen sterilen Neutrinos, finden können. Der IceCube-Detektor am Südpol grenzt Nicht-Standard-Wechselwirkungen der Neutrinos in allen fünf möglichen Parametern stark ein.
Neutrinos gehören zu den rätselhaftesten Teilchen des physikalischen Standardmodells: Sie wechselwirken kaum mit Materie, haben so gut wie keine Masse und können sich ineinander umwandeln. Dazu kommt, dass Neutrino-Detektoren immer wieder Abweichungen vom Erwarteten registrieren: Einige Teilchenspuren sind überraschend energiereich, andere scheinen auf noch unerkannte Neutrinosorten oder neuartige Wechselwirkungen hinzudeuten. Sogar Hinweise auf einen Symmetriebruch zwischen Materie und Antimaterie könnten Physiker bei den „Geisterteilchen“ gefunden haben.
Das Problem jedoch: Bisher waren alle Abweichungen nicht eindeutig genug, um die Existenz einer vierten Neutrinosorte oder von über das Standardmodell der Physik hinausgehenden Wechselwirkungen belegen zu können. Unter anderem deshalb haben mehrere Physikerteams in den letzten Jahren noch einmal gezielt nach solchen Nicht-Standard-Wechselwirkungen und Oszillationen gesucht.
MicroBooNE: Fehlanzeige bei sterilen Neutrinos
Nach Hinweisen auf eine vierte Neutrinosorte haben Physiker mithilfe des MicroBooNE-Experiments am Fermilab in den USA gesucht. Dort werden Myon-Neutrinos auf ihre Umwandlung in andere Neutrinosorten hin analysiert. Ein leichter Überschuss von Elektron-Neutrinos nach der Messtrecke hatte dort kürzlich Fragen aufgeworfen. Deshalb haben Forscher der MicroBooNE-Kollaboration jetzt die ersten drei Jahre an Daten des Experiments noch einmal in vier verschiedenen Studien auf mögliche Spuren steriler Neutrinos hin überprüft.
Das Ergebnis: „Wir haben sehr umfassende Untersuchungen mehrerer Arten von Neutrino-Wechselwirkungen durchgeführt. Alle sagen uns dasselbe: Es gibt keine Hinweise für die Existenz von sterilen Neutrinos“, berichtet Michele Weber von der Universität Bern. „Wir können damit nun die wahrscheinlichste Erklärung für die Anomalien weitestgehend ausschließen und andere – komplexere und vielleicht interessantere – Möglichkeiten untersuchen.“
IceCube: Atmosphärische Neutrinos im Blick
Ebenfalls nach nicht mit dem Standardmodell erklärbaren Neutrino-Wechselwirkungen haben Physiker der IceCube-Kollaboration gesucht. Dafür nutzten sie DeepCore, einen speziellen Bereich des im Eis des Südpols eingelassenen Neutrino-Detektors, in dem die Detektoren besonders dicht angeordnet sind. Dieser Teil von IceCube reagiert vor allem auf atmosphärische Neutrinos mit niedrigerer Energie.
„Atmosphärische Neutrinos bieten uns eine großartige Möglichkeit, zu testen, ob Neutrino-Interaktionen jenseits des Standardmodells existieren, weil die Neutrinos durch die Erde hindurch fliegen, einschließlich ihres Zentrums, das eine sehr hohe Materiedichte hat“, erklärt Elisa Lohfink von der Universität Mainz. Gäbe es Nicht-Standard-Wechselwirkungen der Neutrinos mit Materie, dann könnte sich das an fünf verschiedenen Parametern, darunter auch der Oszillation, zeigen. Insgesamt beruhten die Analysen auf knapp 48.000 Neutrino-Ereignissen mit Energien zwischen 5,6 Gigaelektronenvolt und 100 Gigaelektronenvolt.
Nicht-Standard-Wechselwirkungen eingegrenzt
Den Physikern gelang es damit, die noch denkbaren Bereiche für mögliche Neutrino-Wechselwirkungen jenseits des Standardmodells nicht nur für jeden Parameter einzeln, sondern auch für alle fünf kombiniert einzuschränken. „Soweit wir wissen, gibt es kein anderes Experiment auf der Welt, das dies mit einer einzigen Messung schafft“, sagt Sebastian Böser von der Universität Mainz. „So können wir eine noch nie dagewesene Bandbreite von Modellen für neue Physik im Neutrinosektor testen.“
Insgesamt bedeuten diese neuen, kürzlich im Rahmen einer Konferenz vorgestellten Ergebnisse dass eine „Neue Physik“ in Form neuer Neutrinosorten oder Neutrino-Wechselwirkungen zwar nicht ausgeschlossen ist. Aber der Platz dafür wird enger und die Testmöglichkeiten verbessern sich weiter. (Physical Review Letters, submitted; Physical Review D, 2021; doi: 10.1103/PhysRevD.104.072006)
Quelle: Universität Bern, Universität Mainz