Spurensuche in der Simulation
Auf der Suche nach einer Lösung dieses Rätsels haben Kavokine und sein Team sich das Verhalten von Ladungen und im Speziellen Elektronen in den Wänden der Nanoröhrchen näher angeschaut. „In der klassischen Hydrodynamik ist eine Wand einfach eine Wand, egal woraus sie besteht“, so der Physiker. „Aber im Nanomaßstab wird dies sehr wichtig.“ Denn die Interaktion der Wassermoleküle mit Ladungen im Wandmaterial kann Quanteneffekte verursachen, die den Fluidstrom bremsen oder fördern.
In seinem Modell simulierte das Forschungsteam den Fluss von Wassermolekülen durch Nanoröhrchen von zehn bis 100 Nanometer Durchmesser. Die Röhrchenwände bestanden dabei entweder aus einem einlagigen Kohlenstoffgitter oder aus mehrlagigem Graphit. Die Wissenschaftler prüften anhand verschiedener Szenarien, wie sich Energieaustausch und Quanteneffekte zwischen den Kohlenstoffgittern der Wände und den Wassermolekülen mit diesen Parametern verändern.
Springende Elektronen und Plasmonwellen
Das Ergebnis: Entscheidend für den paradoxen Effekt ist die Beschaffenheit der Nanoröhrchenwände. Ist das Kohlenstoffgitter mehrlagig, haben die Elektronen in der Wand viel Bewegungsfreiheit. Bei Interaktion mit den Wassermolekülen können die angeregten Elektronen zwischen den Lagen hin und her springen, wie Kavokine und sein Team berichten. Dies erzeugt an der Oberfläche der Kohlenstoffwand elektrische Schwingungsmuster, sogenannte Oberflächenplasmonen. Die sich bewegenden Wassermoleküle treten mit diesen Elektronenmustern in Wechselwirkung und werden dadurch abgebremst.
Anders ist dies bei Nanoröhrchen mit einer einlagigen Wand: In ihr haben die Elektronen weniger Bewegungsfreiheit. „Graphen zeigt daher nur sehr geringe Anregungen und nur in sehr kleinen Bewegungsgrößen“, so das Team. Als Folge sind auch die Wechselwirkungen mit den Wassermolekülen geringer – die Quantenreibung bleibt schwach. „Zusammengenommen erklärt die, warum Wasser in einlagigen Nanoröhrchen besser strömt als in mehrlagigen Graphitröhrchen.“
Wandkrümmung entkoppelt die Lagen
Doch warum spielt der Röhrchen-Durchmesser eine Rolle? Auch dafür liefert das Modell von Kavokine und seinen Kollegen eine Erklärung: In dickeren Nanoröhrchen von mehr als 15 Nanometer Durchmesser beeinflusst die Wandkrümmung die Kopplung der einzelnen Kohlenstoffschichten kaum. Die Elektronen können daher weitgehend ungehindert zwischen den Lagen springen. „Ein Röhrchen von 50 Nanometer Dicke hat daher in seiner Wand weiterhin eine graphitähnliche Struktur“, erklären die Physiker.
Bei dünneren Nanoröhrchen ändert sich dies jedoch: Durch die starke Krümmung der Wände werden die einzelnen Kohlenstofflagen stark gegeneinander verschoben und dadurch entkoppelt. Dadurch können Elektronen nicht mehr so leicht zwischen den Schichten springen und verhalten sich eher wie in einem einlagigen Kohlenstoffgitter. „In dickeren Nanotubes ist das Wasser demnach einer graphitähnlich hohen Quantenreibung ausgesetzt, während es in dünneren Röhrchen eine ähnlich geringe Reibung erfährt wie in einlagigem Graphen“, fassen die Wissenschaftler zusammen.
Erster Nachweis für Feststoff und Fluid
Nach Ansicht von Kavokine und seinen Kollegen liefert dieses Szenario die erste schlüssige Erklärung für das Nanoröhrchen-Paradox. „Unsere Studie zeigt eine Verbindung zwischen der klassischen Hydrodynamik und den Quanteneigenschaften der Materie, die bis jetzt nicht zutage getreten waren“, sagt Kavokine. Bislang wurden Quanteneffekte dieser Art nur zwischen Festoffen oder Feststoffen und einzelnen Teilchen nachgewiesen, hier wirken sie zwischen einem Feststoff und einem Fluid.
Die neuen Erkenntnisse könnten aber auch ganz praktische Anwendung finden. Denn auf Basis dieses Wissens können nun Nanokohlenstoffröhrchen je nach Zweck optimiert werden – beispielsweise bei der Entsalzung von Meerwasser, in biotechnologischen Anwendungen oder bei der Energiegewinnung. (Nature, 2022; doi: 10.1038/s41586-021-04284-7)
Quelle: Simons Foundation
3. Februar 2022
- Nadja Podbregar