Aktives Material: Japanische Forscher haben einen Werkstoff entdeckt, der sich ganz von selbst aufrollen, strecken und in die Luft katapultieren kann. Das Karbonnitrid-Polymer reagiert dabei auf Veränderungen der Luftfeuchtigkeit. Das Besondere: Schon geringste Schwankungen lösen die Bewegungen des robusten wie leichten Materials aus. Diese Empfindlichkeit könnte im Vergleich zu anderen selbstorganisierenden Werkstoffen ein entscheidender Vorteil bei künftigen Anwendungen sein, berichten die Forscher im Fachmagazin „Nature Materials“.
Ob sich selbstfaltende Kunststoffe oder wie von Geisterhand kriechendes Graphen: Strukturen, die zur Selbstorganisation fähig sind, spielen in den Materialwissenschaften derzeit eine große Rolle. Diese sogenannten aktiven oder intelligenten Werkstoffe reagieren auf veränderte Umweltbedingungen und ändern dadurch ihre Eigenschaften. Dabei setzen sie zum Beispiel Wärme oder andere Formen von Energie in mechanische Arbeit um.
Japanische Forscher um Hiroki Arazoe vom Riken-Institut in Wako haben nun ein weiteres Mitglied dieser ungewöhnlich autonomen Materialgruppe entdeckt: Ein Karbonnitrid-Polymer, das sich nicht nur ganz von allein aufrollen und wieder strecken kann – sondern sogar wahre Luftsprünge vollführt.
Rätselhafter Film mit Eigenleben
Auf den Stoff und seine besonderen Fähigkeiten stießen die Wissenschaftler durch einen glücklichen Zufall. Als sie für ihre Forschung Guanidiniumkarbonat in einer Teströhre erhitzten, zerfiel das Material nicht nur wie erwartet zu einem Pulver. „Es hatte auch einen gelblichen Film gebildet, der an der Innenseite am oberen Ende der Röhre klebte“, berichtet das Team.
Bei der Analyse dieses Films erlebten die Forscher gleich zwei Überraschungen: Das nur 900 Nanometer dicke Polymer war für seine Härte und Dicke erstaunlich leicht und führte offensichtlich ein Eigenleben. Ohne erkennbaren Reiz von außen beugte es sich von Zeit zu Zeit plötzlich, nur um sich später wieder glatt zu entfalten.
Beugen und strecken
Doch was löste diese unerwarteten Bewegungen aus? Mithilfe einiger Experimente kamen Arazoe und seine Kollegen dem Geheimnis des Materials auf die Schliche. Sie stellten fest: Bewegten sie einen Tropfen Wasser in die Nähe des Films, glättete dieser sich. Die Forscher verglichen nun das Gewicht des Films im glatten und im aufgerollten Zustand. Dabei zeigte sich: Aufgerollt war das Material etwas leichter als im ausgestreckten. Der winzige Unterschied betrug circa 680 Nanogramm pro zehn Quadratmillimeter.
Für die Wissenschaftler war das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass das Polymer auf kleinste Veränderungen der Luftfeuchtigkeit reagiert und beim Beugen Wasser an eine weniger humide Umgebung abgibt. Steigt die Feuchtigkeit im Umfeld des Materials, bindet es hingegen Wasser auf seiner Oberfläche und streckt sich. Wahrscheinlich, so die Theorie der Forscher, vollzieht sich die Formänderung dabei durch mechanischen Stress, den die Bindungen zwischen den Wassermolekülen und dem Polymer erzeugen.
Gewaltiger Sprung
Mithilfe von Erhitzung oder Bestrahlung mit Licht kann dieser Effekt selbst bei konstanter Luftfeuchtigkeit erzeugt werden. Denn Adsorptions- und Desorptionsprozesse sind auch temperaturabhängig. Bestrahlten die Wissenschaftler das Polymer mit periodisch aufleuchtendem ultraviolettem Licht, reagierte das Material sogar noch kraftvoller und schneller auf die veränderten Umweltbedingungen.
Die Formänderung lief innerhalb von nur 50 Millisekunden ab, wie die Forscher berichten. „Aufgrund seiner Leichtigkeit sprang der Film beim Aufrollen förmlich in die Luft“, schreiben sie. Mit einem Zentimeter flog das Material 10.000-mal so hoch wie es dick ist. Dabei zeigte sich auch, dass das Karbonnitrid-Polymer sehr robust ist. Mehr als 10.000-mal ließen Arazoe und seine Kollegen das Material sich beugen und strecken – und konnten keine Verschleißerscheinungen feststellen.
Dank eines einfachen Tricks gelang es dem Team zudem, dass Material zum Laufen zu bringen. Dafür beschichteten sie eine Hälfte des Films mit Gold, sodass diese Seite kein Wasser mehr binden oder abgeben konnte. Nur eine Hälfte des Films beugte und streckte sich nun, die andere veränderte ihren Zustand nicht. Das Ergebnis: Das Polymer bewegte sich vorwärts.
Besonders empfindlich
Die Forscher beeindruckt vor allem die Empfindlichkeit ihres rollenden, springenden und laufenden Materials: „Das Polymer reagiert auf Veränderungen, die ein herkömmliches Hygrometer gar nicht messen kann“, sagen Arazoe und seine Kollegen. „Keiner der bisher bekannten vergleichbaren Werkstoffe, einschließlich Graphenoxid und Agarose, reagieren auf solche geringen Schwankungen der Luftfeuchtigkeit.“
Für künftige Anwendungen könnte sich diese Eigenschaft als besonders nützlich und nachhaltig erweisen. „Man benötigt demnach wenig Aktivierungsenergie, um die Bewegung des Materials in Gang zu setzen“, schließen die Forscher. Aktive Werkstoffe wie das neuartige Polymer könnten in Zukunft unter anderem beim Bau von Robotern, künstlichen Muskeln, chemischen Sensoren oder anderen Geräten eine Rolle spielen. (Nature Materials, 2016; doi: 10.1038/nmat4693)
(RIKEN, 19.07.2016 – DAL)