Mysteriöses Blau: Das „Folium-Blau“ schmückte unzählige mittelalterliche Manuskripte und wurde in vielen Texten beschrieben – aber woher ihr Blau kam, blieb unbekannt. Erst jetzt haben Forscher die Struktur dieser Farbe enträtselt. Das überraschende Ergebnis: Das Blau dieser Pflanzenfarbe ist weder ein Anthocyan noch mit Indigo verwandt. Stattdessen erzeugt ein komplexes Alkaloid das tiefe, wasserlösliche Blau – eine ganz neue Art von Blaupigment.
Die Farbe Blau galt in vielen frühen Gesellschaften als etwas Besonderes. Weil dieser Farbton in der Natur eher selten vorkommt, sah man ihn als Farbe des Himmels und der höheren Sphären. Während viele Völker das aus Pflanzen gewonnene Indigo sowie Anthocyane als Grundlage ihrer blauen Farben nutzten, entwickelten die Ägypter vor mehr als 5.000 Jahren bereits das erste künstlich hergestellte mineralische Pigment.
„Die geheimnisvollste aller Künste“
Aber es gibt eine blaue Farbe, die sich bisher allen Analysen entzogen hat. Es handelt sich um eine blaue, wasserlösliche Farbe, die von der Antike bis ins späte Mittelalter häufig zur Illustration von Manuskripten verwendet wurde. In historischen Texten wird zwar beschrieben, dass dieses als Folium oder Tournesol bekannte Pigment aus der Pflanze Chrozophora tinctoria gewonnen wurde. Aber welche chemische Struktur die blaue Pflanzenfarbe hatte, blieb unbekannt.
Einer der Gründe dafür: Die Herstellung dieser blauen Farbe geriet nach dem Ende des Mittelalters in Vergessenheit. Im 19. Jahrhundert beschrieb ein französischer Priester die Produktion des Pigments als eine der geheimnisvollsten Künste: „Diejenigen, die sie herstellen, kennen ihre Anwendung nicht. Die, die von ihr profitieren, wissen nichts über ihre Herstellung und diejenigen, die sie beschrieben haben, erzählten nichts als Lügen.“
Weder Indigo noch Anthocyan
Doch nun haben Forscher um Paula Nabais von der Nova-Universität Lissabon das Geheimnis des Foliums gelüftet. Für ihre Studie folgten sie zunächst den Anweisungen mittelalterlicher Manuskripte und sammelten einige Früchte des noch heute im Süden Portugals wachsenden Wolfsmilchgewächses Chrozophora tinctoria. In Alkohol gaben die zerkleinerten Früchte einen blauen Farbstoff frei. Diese Lösung analysierten die Wissenschaftler unter anderem mit Gaschromatografie-Massenspektrometrie (GS-MS).
Das Ergebnis: „Der Extrakt zeigte einen chromatografischen Peak mit einer maximalen Absorption bei rund 540 Nanometer – das entspricht einer blau-violetten Farbe“, berichten Nabais und ihr Team. Nähere Analysen enthüllten, dass dieses spektrale Signal von keiner bisher als Pigment bekannten chemischen Verbindung stammte. „Bei dieser blauen Farbe handelt es sich weder um ein in vielen blauen Blumen und Früchten gefundenes Anthocyan noch um ein Indigo“, erklären Nabais und ihr Team. „Dieses Pigment erweist sich als seine Klasse für sich.“
Mit einem alten Pflanzenheilmittel verwandt
Doch was ist es? Die Untersuchungen ergaben, dass der geheimnisvolle Blau-Farbstoff aus zwei verbundenen Kohlenwasserstoffringen mit angelagertem Zuckermolekül besteht – er ist ein sogenanntes Hermidin. Das Überraschende daran: Hermidine sind in der Pflanzenchemie und Pharmazeutik keine Unbekannten. Denn diese Alkaloide kommen auch im Wald-Bingelkraut (Mercurialis perennis) vor, einem in vielen Wäldern Europas wachsenden Heilpflanze.
Aber die Hermidine aus dem Bingelkraut ergeben nur bräunliche und gelbliche Lösungen, aber kein haltbares Blau. Was also ist bei dem Chrozophoridin getauften Hermidin anders? Wie die Forscher herausfanden, lagern sich bei diesem Blaupigment zwei Hermidine so zusammen, dass es zu einem Ladungsaustausch kommt. Das stabilisiert die Moleküle in einer Konfiguration, die zur starken Blauabsorption führt.
„Unverzichtbares Wissen“
Damit ist das Jahrhunderte alte Geheimnis der mittelalterlichen Manuskriptfarbe und seines pflanzlichen Rohstoffs nun endlich gelüftet. „Dies ist ein für die Erhaltung unseres europäischen Kulturerbes unverzichtbares Wissen“, konstatieren Nabais und ihre Kollegen. „Aber wir sind sicher, dass dies noch nicht das letzte Wort zu dieser faszinierenden Pflanze und seiner Geschichte ist und dass bald noch weitere Entdeckungen folgen werden.“ (Science Advances, 2020; doi: 10.1126/sciadv.aaz7772)
Quelle: Science Advances/ AAAS