Verschollenes Erbe des deutschen Atomprojekts: Als die Alliierten im Jahr 1945 den NS-Testreaktor in Haigerloch demontierten, nahmen sie einen Großteil der Uranwürfel mit. Doch wo diese Würfel anschließend landeten, blieb ungeklärt. Jetzt haben sich US-Forscher auf die Suche nach diesen verschollenen Relikten des Atomprogramms der Nazis gemacht – und einiges Überraschendes herausgefunden.
Es war der letzte verzweifelte Versuch der deutschen Kernphysiker unter Hitler, einen Atomreaktor zu bauen und eine atomare Kettenreaktion zum Laufen zu bringen: Im süddeutschen Haigerloch starteten Werner Heisenberg und sein Team im Frühjahr 1945 den Versuch B8. In diesem hängten sie 664 Uranwürfel von fünf Zentimetern Kantenlänge an knapp 80 Drahtseile und tauchten das Gebilde in einen Tank mit schwerem Wasser. Dann beschossen sie diesen Testreaktor mit Neutronen, in der Hoffnung, eine Kettenreaktion anzustoßen.
Das letzte Scheitern
Doch der Versuch misslang – musste misslingen. „Es war nicht genug Uran im Kern präsent, um dieses Ziel zu erreichen“, erklärt Timothy Koeth von der University of Maryland. Heutige Berechnungen zeigen, dass für das Erreichen der kritischen Schwelle zu einer Kettenreaktion rund 50 Prozent mehr Uranwürfel nötig gewesen wären. Doch dieses Material hatten Heisenberg und sein Team nicht – durch den bereits so gut wie verlorenen Krieg hatte Deutschland keinen Zugriff mehr auf Uranvorkommen.
Wenig später erreichten die Alliierten das Gebiet um Haigerloch und Angehörige der Alsos-Mission demontierten den Reaktor, sammelten alle Dokumente ein und spürten auch die zuvor von Heisenberg und seinem Team in einem Feld vergrabenen Uranwürfel auf. Sie wurden zum größten Teil in die USA gebracht. Doch was geschah dann mit ihnen?
Fahndung nach den Würfeln
Um mehr über das Schicksal der Uranwürfel aus Haigerloch herauszufinden, haben Koeth und sein Team in den letzten Jahren systematisch nach Hinweisen auf den Verbleib dieser Kriegsrelikte geforscht. Ihren Erkenntnissen nach wurde ein Großteil der Uranwürfel wahrscheinlich im Oak Ridge National Laboratory angereichert und zu waffenfähigem Uran für die US-Atomwaffenversuche verarbeitet – aber nicht alle.
Ein Teil der Uranwürfel blieb erhalten, wie die Nachforschungen ergaben. „Sie wurden damals an verschiedene Personen verteilt“, berichtet Koeths Kollegin Miriam Hiebert. „Wir wissen aber nicht, wie viele Würfel weggegeben wurde und was mit dem Rest passierte.“ Insgesamt zehn Uranwürfel finden sich demnach heute als Ausstellungsstücke in US-Museen und Forschungsinstituten, drei weitere Würfel sind in Deutschland ausgestellt: in Haigerloch, im mineralogischen Museum Bonn und im Bundesinstitut für Strahlenschutz in Berlin.
Uran auf dem Schwarzmarkt
Überraschend jedoch war ein anderer Fund der Wissenschaftler: Aus ihren Nachforschungen geht hervor, dass es neben den 664 Uranwürfeln von Haigerloch in Deutschland bei Kriegsende noch 400 weitere solcher Würfel gab. Sie stammten aus der mit Heisenbergs Team konkurrierendem Forschergruppe um Kurt Diebner. „Hätten die Deutschen ihre Ressourcen gebündelt, statt sie zwischen rivalisierenden Experimenten aufzuteilen, dann hätten sie vielleicht einen funktionierenden Atomreaktor zustande gebracht“, sagt Koeth.
Doch wo blieben diese Uranwürfel? Während die Würfel aus Haigerloch fast vollständig in die USA gebracht wurden, landeten die 400 restlichen größtenteils auf dem osteuropäischen Schwarzmarkt, wie die Forscher herausfanden. Weil der Besitz von Uran den Deutschen damals nach alliiertem Recht verboten waren, gingen die Schwarzhändler dabei erhebliche Risiken ein – was viele aber nicht von dem vermeintlich lukrativen Geschäft abhielt.
In die Sowjetunion verschoben
„Dokumente zeigen, dass die US-Behörden damals alle paar Monate einen Brief erhielten, in denen ihnen Uranwürfel für hunderte oder tausende Dollar pro Stück angeboten wurden – verbunden mit der Drohung, sie sonst an den USA wenig freundlich gesinnte Mächte zu verkaufen“, berichten Koeth und Hiebert. Weil die USA aber über genügend eigenen Uranressourcen verfügten, reagierten die Behörden meist nicht auf diese Angebote.
„Historische Dokumente in den US-National Archives sprechen dafür, dass die Mehrheit dieser Uranwürfel letztlich in der Sowjetunion landete“, so die Forscher. Wie viele dies waren und was dort mit diesen Relikten des Krieges passierte, ist jedoch unbekannt. Koeth und Hiebert wollen nun als nächstes versuchen, mehr über das Schicksal dieser Schwarzmarkt-Würfel herauszufinden.
„Wir wollen sie alle finden“
Aber auch der Verbleib der in den USA in Umlauf gebrachten Uranwürfel ist bislang erst zum Teil aufgeklärt. „Es gibt wahrscheinlich noch viele weitere dieser Uranwürfel, die in Kellern und Büros irgendwo in den USA herumliegen – wir wollen sie alle finden“, sagt Koeth. Die Forscher haben eigens eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die Tipps und Hinweise zum Verbleib dieser historischen Relikte gesendet werden können. (Physics Today, 2019; doi: 10.1063/PT.3.4202)
Quelle: American Institute of Physics