"Seit 1986 warten wir auf diese Messung", sagt Müller. Es sei einer der seltenen Durchbrüche in der Elementarteilchenphysik. Dabei haben viele der Physiker ein ganz anderes Ergebnis erhofft. Müller: "Wir wissen, dass das Standardmodell unvollständig sein muss." Unter extremen Bedingungen, wie sie kurz nach dem Urknall geherrscht haben, sei es nicht gültig. Das Standardmodell müsse der Grenzfall einer allgemeineren Theorie sein.
Standardmodell mit Unzulänglichkeiten
Müller vergleicht dieses Verhältnis mit dem zwischen der Mechanik Isaac Newtons und Einsteins Relativitätstheorie. Erstere beschreibt die Bewegung von Dingen in unserer Alltagswelt bis hin zur Planetenbewegung. Für Geschwindigkeiten nahe der des Lichtes verliert sie jedoch ihre Gültigkeit und muss durch die allgemeiner gültige Relativitätstheorie ersetzt werden. Das Standardmodell hat weitere Unzulänglichkeiten: "Es kann nicht erklären, warum im Universum nur Materie und keine Antimaterie beobachtet wird", sagt Feindt, der maßgeblich an der Entwicklung der Karlsruher Spezialsoftware mitwirkte. Jede Proton- Antiproton-Kollision kann mit einem "Mini-Urknall" verglichen werden.
Es entsteht eine hohe Zahl neuer Teilchen, die mit dem 700 Tonnen schweren CDF-Detektor nachgewiesen werden. Indem sie die Kollisionen mit Präzisionsmessungen beobachten, hoffen Physiker, über die Grenzen des Standardmodells hinauszublicken, um ein tieferes Verständnis der Natur der kleinsten Teilchen und der Evolution des Universums zu gewinnen.
Seit 1995 arbeitete das Karlsruher Team an Software, die aus dem Gewirr elektronischer Teilchenspuren im CDF-Detektor rekonstruieren kann, ob ein Bs-Meson bei seiner Entstehung Teilchen oder Antiteilchen war. Dieses so genannte Tagging basiert auf komplexen statistischen Verfahren. Zusammen mit der Lebensdauer des Bs-Mesons, die im Bereich einer Millionstel Sekunde liegt, und der relativ einfach zu gewinnenden Information, ob es bei seinem Zerfall Teilchen oder Antiteilchen war, kann auf die Anzahl der Umwandlungen pro Sekunde geschlossen werden.
Neuronales Netzwerk "NeuroBayes"
Zum ersten Mal kam für das Tagging unter anderem das in Karlsruhe entwickelte neuronale Netzwerk "NeuroBayes" zum Einsatz. Neuronale Netze können versteckte Zusammenhänge in umfangreichen Datenmengen aufspüren. NeuroBayes wird auch in der Wirtschaft eingesetzt, zum Beispiel zur Analyse von Versicherungsdaten. Maßgeblich zum Erfolg beigetragen hat außerdem die Software "Same-Side-Kaon Tagging" der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) forschenden Emmy-Noether-Stipendiatin Stephanie Menzemer, die an der Universität Karlsruhe promovierte.
Zwischen Februar 2002 und Januar 2006 kollidierten im Fermilab hunderte von Billionen Protonen mit Antiprotonen. Die Daten wurden auf großen Computer-Netzwerken und zum Teil auf dem World-Wide-Grid, einem weltweiten Zusammenschluss von Rechenzentren, ausgewertet. Die Physiker konnten so den Lebensweg von etwa 3.700 Bs-Mesonen vollständig rekonstruieren. Die Rekonstruktion von weiteren etwa 53.000 Bs-Mesonen gelang wegen der Beteiligung von nicht nachweisbaren Neutrinos an der Reaktion teilweise.
Diese Datenbasis bildet ein starkes statistisches Fundament für die Auswertung. Die Wahrscheinlichkeit, dass die gemessene Umwandlungsrate von einer statistischen Fluktuation herrührt, beträgt nur 0,5 Prozent. Um jedoch jeden Zweifel auszuschließen, werden die Wissenschaftler weitere Daten aufnehmen und die Rekonstruktionsmethoden weiter entwickeln.
(idw – Universität Karlsruhe (TH), 24.04.2006 – DLO)
24. April 2006