„Unser Ansatz entschlüsselt die En Gedi Schriftrolle und erlaubt zum ersten Mal eine visuelle Erkundung ihrer inneren Schichten – und die Entzifferung ihres Textes“, so Seales. Im ersten Schritt wurde die verkohlte Schriftrolle vorsichtig mittels Micro-Computertomografie (CT) durchleuchtet. Dieser Scan bildet die dreidimensionale Struktur der Rolle ab und ist gleichzeitig hochauflösend genug, um selbst die höhere Dichte der Tinte in beschriebenen Passagen aufzuzeichnen.

Entscheidend für alles weitere ist die korrekte Identifizierung der einzelnen Schichten © Seth Parker/ University of Kentucky
Analyse in mehreren Schritten
„Die Scandaten bilden die Basis für alle weiteren Schritte – die echte Schriftrolle kann sicher wieder in ihrem Archiv verstaut werden“, erklären die Forscher. Die Rohdaten der Scans wurden nun von einer eigens dafür entwickelten Spezial-Software analysiert. Als erstes versucht diese, die einzelnen Schichten des Pergaments zu identifizieren. „Das ist enorm schwierig, weil die En Gedi-Rolle stark verformt und zerdrückt ist“, so Seales und seine Kollegen.
Sind die Schichten der Schriftrolle einmal identifiziert und als 3D-Textur rekonstruiert, folgt der nächste Schritt: die Fahndung nach dem darauf geschriebenen Text. Dafür nutzt das Programm aus, dass die meisten alten Tinten Metallpartikel enthalten, die ihnen im Röntgenlicht eine höhere Dichte verleihen als das unbeschriebene Pergament. Dies verursacht im CT-Bild subtile Helligkeitsunterschiede, die die Software gezielt verstärkt.
Text stammt aus dem 3. Buch Mose
Damit der Text nun lesbar wird, „entrollt“ das Programm nun die Schriftrolle und fügt ihre geschriebenen Innenseiten virtuell zu einem flachen Pergament zusammen. Bereits im letzten Jahr war es Seales und seinen Kollegen auf diese Weise gelungen, den Text auf einer der inneren Schichten der En Gedi-Rolle zu entziffern. Inzwischen jedoch haben sie alle fünf Schichten aus gut hundert virtuellen Fragmenten zusammengefügt und lesbar gemacht.

Auf dem verkohlten Pergament sichtbar gemachte Schriftzeichen. Der Test stammt aus dem 3. Buch Mose. © Seth Parker/ University of Kentucky
Die Entzifferung erster Textteile bestätigt: Auf dieser Schriftrolle ist ein Teil des 3. Buchs Mose niederschrieben – einem der Texte, mit denen das Alte Testament der Bibel beginnt. „Damit ist dies die älteste Kopie eines Bibeltextes aus den fünf Büchern Mose, die je in einer Synagoge gefunden wurde“, konstatieren die Forscher. Nur die Schriftrollen vom Toten Meer sind noch 100 bis 400 Jahre älter.
Biblische Lücke geschlossen
„Die En Gedi Schriftrolle liefert uns damit eine wichtige Ergänzung zu den Schriftrollen vom Toten Meer“, so Seales und seine Kollegen. Denn sie schließe eine fast 800 Jahre lange „Lücke des Schweigens“ zwischen diesen ältesten Zeugnissen biblischer Texte und den nächstjüngeren, die aus der Zeit um 900 nach Christus stammenden Textfragmenten aus Kairo.
Bisher haben die Wissenschaftler schon festgestellt, dass die hebräischen Schriftzeichen denen auf den Schriftrollen vom Toten Meer sehr ähnlich sind. Inhaltlich entspricht der Text – ein Teil einer Opfervorschrift – ziemlich genau dem der bereits bekannten hebräischen Bibel, wie die Forscher berichten. Weitere Analysen des Textes auf der En Gedi-Rolle werden nun folgen.
Wie die Forscher betonen, eröffnet ihr Verfahren nun die Chance, auch weitere verbrannte oder anderweitig stark beschädigte Schriftrollen und Manuskripte zu entziffern. „Wir können damit Texte wiederentdecken, die bisher in diesem beschädigten Material begraben waren“, so Seales und seine Kollegen. (Science Advances, 2016; doi: 10.1126/sciadv.1601247)
(AAAS, 22.09.2016 – NPO)
22. September 2016