Vor wenigen Monaten schien es, als wenn neue experimentelle Ergebnisse die gesamte bisherige Vorstellung vom chemischen Verhalten und Struktur des flüssigen Wassers umstürzen würden. Doch neue Experimente deuten an, dass der „große Umsturz“ vielleicht doch nur eine kleine Variation der altbekannten Wasserchemie sein könnte, wie amerikanische Wissenschaftler jetzt in der Zeitschrift Science berichten.
Ein Team von Forschern des Lawrence Berkeley National Laboratory und der Universität von Kalifornien hat gezeigt, dass das messbare Verformen der molekularen Struktur des flüssigen Wassers genauso viel Energie benötigt, wie das Schmelzen von Eis. Aus der ermittelten durchschnittlichen Energiemenge von 1,5 Kcal/mol für die Verbiegung einer Wasserstoffbindung schließen die Wissenschaftler unter Leitung des Chemikers Richard Saykally, dass die meisten Wassermoleküle sehr wohl mit vier weiteren Wassermolekülen interagieren, indem sie Wasserstoffbrückenbindungen aufbauen.
Zwei oder vier Bindungen?
Obwohl Wasser zu den häufigsten Stoffen der Erde gehört, sind viele Details seiner Chemie noch immer ungeklärt. Nach traditioneller Auffassung verbinden sich im Wasser die aus jeweils zwei Wasserstoff- und einem Sauerstoffatom bestehenden Moleküle mit ihren vier nächsten Nachbarn um ein Tetraeder zu bilden. Diese Wasserstoffbrücken durchziehen im gefrorenen Wasser den gesamten Block, so dass ein Netzwerk aus Tetraedern entsteht. Im flüssigen Zustand, so die Annahme, zerfallen nur etwa zehn Prozent dieser Bindungen – und diese Mischung erklärt die ungewöhnlichen Eigenschaften des flüssigen Wassers.
Im April dieses Jahres hatten Wissenschaftler der Stanford Universität mithilfe von Röntgenspektroskopie und anderen Testmethoden jedoch Hinweise darauf entdeckt, dass bei Raumtemperatur sogar 80 Prozent der Wasserstoffbrückenbindungen aufgelöst sein könnten. Im Durchschnitt bedeutete dies, dass jedes Wassermolekül nur jeweils zwei Bindungen zu Nachbarmolekülen aufrecht erhielt – nicht vier, wie bisher angenommen. Daraus schlossen die Forscher, dass sich beim Gefrieren statt eines Tetraedernetzwerks eher Ringe und Ketten bilden könnten.
Tetraeder rehabilitiert?
Saykally und seine Kollegen haben nun mithilfe einer anderen Testmethode, der so genannten „total electron yield near-edge x-ray absorption fine structure“ (TEY-NEXAFS) die Bindungsenergie des Wasser gemessen und abweichende Ergebnisse erzielt. „Wir stellten fest, dass die Standford-Ergebnisse von relativ kleinen Verformungen einer eisartigen Wasserbindung herrühren“, erklärt Saykally. „Und dass die gleichen Ergebnisse auch bei nahezu perfekten Tetraederkonfigurationen zu erwarten sind. Unsere Ergebnisse widerlegen zwar nicht die Schlussfolgerungen des Stanford-Experiments, aber wir präsentieren einen alternativen Weg, wie ihre Experimente konsistent zur Standardsicht des Struktur des flüssigen Wassers interpretiert werden könnten”, erklärt Saykally.
Da Wasser eine entscheidende Rolle sowohl für alles Leben als auch für eine Reihe weiterer wichtiger physikalischer und chemischer Prozess spielt, stehen Struktur und Verhalten seiner Moleküle im Mittelpunkt des Forscherinteresses. Auch nach der letzten Runde von Experimenten ist das letzte Wort in dieser Frage offenbar noch nicht gesprochen – noch hütet das Wasser einen Großteil seiner Geheimnisse.
(Lawrence Berkeley National Laboratory, 12.11.2004 – NPO)