Schattenwelt des Netzes: Längst nicht jeder, der das Dark Web benutzt, hat auch Illegales im Sinn, wie nun eine Studie enthüllt. Demnach besuchen in globalen Schnitt nur 6,7 Prozent der Nutzer des anonymen Tor-Netzwerks potenziell illegale Seiten der Onion/Hidden Services. Dieser Anteil sinkt in Ländern mit unfreien Regimes auf 4,8 Prozent – ein Hinweis darauf, dass das Tor-Netzwerk dort primär für Anonymität und politische Aktivitäten genutzt wird, wie die Forscher berichten.
Das Dark Web gilt als die anonyme Schattenwelt des Internets – der Bereich, der dem Zugriff von Suchmaschinen, aber auch Behörden entzogen ist. Zugang erhält man nur, wenn man spezielle Software wie den Tor-Browser nutzt und die Zieladresse kennt. Dadurch bietet das Dark Web Möglichkeiten für kriminelle Aktivitäten – vom illegalen Drogen- und Waffenhandel bis zur Kinderpornografie. Gleichzeitig aber kann es für Menschen aus Diktaturen und anderen unfreien Systemen die einzige Möglichkeit sein, unentdeckt politisch aktiv zu sein.
Datenverkehr an Tor-Einstiegsknoten abgegriffen
Doch welche Nutzung des Dark Webs überwiegt? „Wie bei jedem Werkzeug, das für Gutes wie für Böses genutzt werden kann, stellt sich die Frage, ob die Vorteile die negativen Seiten übertreffen“, erklären Eric Jardine von der Virginia Tech und seine Kollegen. Um das herauszufinden, haben sie ein halbes Jahr lang von Dezember 2018 bis August 2019, rund ein Prozent der Einstiegsknoten (Guard Nodes) des Tor-Netzwerks betrieben.
Dadurch konnten die Forscher die Datenströme von Millionen Nutzern abgreifen und ermitteln, ob diese das Tor-System nur zum anonymen Surfen im normalen Internet nutzen oder ob sie verborgene Seiten der Onion/Hidden Services aufsuchen. „Unser Prozess verrät nichts über den Inhalt, den die Nutzer suchen“, betonen die Wissenschaftler. Auch die IP der Nutzer sei nicht erfasst worden – nur das Land, aus dem die Anfrage kam.
Welche Seiten die Nutzer bei den Onion/Hidden Services aufsuchten, ließ sich ebenfalls nicht feststellen – diese Anonymität ist ja der Sinn des Dark Webs. „Für unsere Analyse gehen wir aber davon aus, dass die Tor-Klienten, die Onion/Hidden Services anvisieren, wahrscheinlich vorwiegend illegale Aktivitäten im Sinn haben, wie den Besuch von Hackerforen, Drogenumschlagsplätzen oder kinderpornografischen Seiten“, sagen die Wissenschaftler.
Nur eine Minderheit besucht Dark-Web-Seiten
Aus diesen Daten haben die Forscher ermittelt: Pro Tag nutzen hochgerechnet rund zwei bis 2,5 Millionen Nutzer weltweit das Tor-Netzwerk. Die große Mehrheit davon verwendet dieses System aber nur, um anonym ins normale Internet zu gelangen. „Nur 6,7 Prozent aller Tor-Nutzer unserer Stichprobe besuchten Seiten der Onion/Hidden Services“, berichten Jardine und sein Team. „Anders ausgedrückt: Nur rund einer von 20 Tor-Nutzern verwendet das System an einem beliebigen Tag für illegale Zwecke.“
Entgegen gängiger Annahme hat demnach nicht jeder, der die Infrastruktur des Dark Web nutzt, auch Schlechtes im Sinn. „Unsere Daten sprechen eher dafür, dass die Tor-Nutzer im Allgemeinen vergleichsweise legale Dinge mit dem Tor-Netzwerk tun und gar keine Inhalte der Onion/Hidden Services anschauen“, sagen die Forscher.
Unterschiede je nach politischem System
Interessant auch: Die Nutzung des Dark Web ist weltweit nicht gleich verteilt, wie die Analysen enthüllten. Demnach verwenden Nutzer aus politisch unfreien Systemen das Tor-Netzwerk weit häufiger nur zum anonymen Zugang ins normale Internet. Die potenziell illegalen Seiten in den Tiefen des Dark Web werden in Ländern wie China, Algerien oder Russland nur zu 4,8 Prozent besucht. In Ländern mit Meinungsfreiheit und liberalen Systemen liegt der Anteil der potenziell illegalen Nutzungen dagegen bei 7,8 Prozent.
„Diese Ergebnisse sprechen dafür, dass sich die legale und illegale Nutzung des Tor-Netzwerks je nach politischem Kontext deutlich unterscheidet“, schreiben die Forscher. „Die potenziell kriminelle Nutzung konzentriert sich eher in freien Regimen, während Nutzer aus unfreien Ländern das System eher für politische und bürgerrechtsbezogene Zwecke einsetzen.“
Dark-Web-Dilemma bestätigt
Nach Ansicht der Wissenschaftler bestätigt dies das ethisch-rechtliche Dilemma im Umgang mit digitalen Werkzeugen wie dem Dark Web: „Lässt man das Tor-Netzwerk aktiv und frei von gesetzlicher Überwachung, dann kann dies Schaden anrichten, weil das System Drogenhandel, Kindesmissbrauch und Waffenhandel begünstigt“, so Jardine und sein Team.
Umgekehrt bietet das anonyme Tor-Netzwerk vielen Menschen einen geschützten Zugang zu wichtigen Informationen: „Wenn man Tor zumacht, würde dies Dissidenten und Menschenrechts-Aktivisten schaden – vor allem in repressiven System, in denen ein solcher technologischer Schutz am nötigsten gebraucht wird“ so die Wissenschaftler.
Letztlich müsse die Gesellschaft entscheiden, inwieweit und bis zu welchem Punkt die Kosten durch die kriminelle Seite des Dark Web den Nutzen aufwiegen – und ob diese Kosten-Nutzen-Rechnung auch dann noch trägt, wenn beides geografisch ungleich verteilt ist. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2020; doi: 10.1073/pnas.2011893117)
Quelle: Proceedings of the National Academy of Sciences