Neurobiologie

Babys haben schon Sinn für „mehr“ oder „weniger“

Generalisierte Annahmen über quantitative Verhältnisse bereits vorhanden

Kleinkinder sind bereits sensibel für "mehr als"- oder "weniger als"-Relationen © Carol Clark

Noch bevor sie sprechen können, verarbeiten Babys Informationen über Zahlen, Raum und Zeit in weitaus komplexerer Weise als bisher angenommen. Experimente belegen, dass die Kleinkinder bereits nach einmaliger Erfahrung generalisierte Annahmen über die „mehr als“- oder „weniger als“-Relationen bei Mengen, Größen und der Dauer von Dingen bilden.

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Noch 1890 beschrieb der Psychologe William James die Weltsicht von Babys als „eine große, blühende und schwirrende Verwirrung“. Doch mehr und mehr zeigt sich heute, dass auch Säuglinge ihre Umwelt weitaus organisierter wahrnehmen als zuvor gedacht. Unklar war bisher jedoch, ob und wie Babys Informationen über Größen, Mengen oder Zeitdauer aufnehmen und miteinander verknüpfen. Während bei Erwachsenen beispielsweise räumliche Position und Mengenbegriff neuronal eng verknüpft sind – wir suchen automatisch die kleinere Anzahl weiter links, eine größere weiter rechts im Raum – war bisher nicht klar, ab wann und wie sich dieses generalisierte Konzept von Verhältnissen entwickelt.

Blickdauer als Maß für Überraschung

Ein Forschungsteam der Emory Universität in Atlanta um Stella Lourenco hat sich gemeinsam mit Kollegen des University College London nun dieser Frage angenommen. Die Wissenschaftler entwickelten ein Experiment, bei dem neun Monate alten Kleinkindern Gruppen von Objekten auf einem Computerbildschirm gezeigt wurden. „Babies starren neue Dinge gerne an und wir können die Zeit, die sie schauen, messen um zu verstehen, wie sie Informationen prozessieren.“ Demnach sollte sich die Blickdauer verlängern, wenn die Kinder mit Unerwartetem konfrontiert werden, dagegen verkürzen, wenn die Abbildung den Erwartungen entsprach.

Im Versuch wurden den Kleinkindern zunächst größere Objekte gezeigt, die weiße Streifen auf schwarzem Grund trugen und daneben eine Gruppe gleicher Objekte aber geringerer Größe, die weiß mit schwarzen Punkten gemustert waren. Das nächste Bild zeigte wieder zwei ungleiche Gruppen, diesmal aber eine mit mehr und eine mit weniger Objekten. War in dem neuen Bild die zahlenmäßig größere Gruppe wieder schwarz mit weißen Streifen und die kleinere weiß mit schwarzen Punkten, blickten die Kinder nur kurz darauf.

Kongruenz-Brüche erkannt

„Wir haben gezeigt, dass neun Monate alte Kleinkinder bereits sensibel sind für die ‚mehr als‘- oder ‚weniger als‘-Relationen bei Zahlen, Größe und Dauer von Dingen“, erklärt Lourenco. „Und was wirklich bemerkenswert ist: Sie benötigen nur die Erfahrung mit einem dieser quantitativen Konzepte um zu erraten, wie es bei den anderen Quantitäten aussieht.“ Denn wenn die Forscher die Musterungen umkehrten, ruhte der Blick der Kinder deutlich länger auf dem Bildschirm – sie waren offenbar überrascht. „Wenn die Babies länger schauen, deutet das daraufhin, dass sie durch den Bruch in der Kongruenz überrascht sind“, erklärt Lourenco. „Sie scheinen eine Korrelation dieser verschiedenen Dimensionen in der Welt zu erwarten.“

Offensichtlich erwarteten die Babies, dass die größere Gruppe – egal ob in Bezug auf Objektgröße oder Anzahl der Objekte in einer Gruppe – immer schwarz-weiß gestreift sein müsste. Sie hatten offenbar eine Art generalisierter Kategorisierung entwickelt, die sich von der reinen Objektgröße auf andere Faktoren wie Menge und auch Dauer ausdehnte.

Generalisierte Kategorien schon nach wenigen Lebensmonaten

„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Menschen schon nach den ersten Monaten ihres Lebens Informationen über Quantitäten nutzen, um ihre Erfahrungen der Welt zu organisieren“, so Lourenco. „Selbst wenn wir nicht mit diesem System geboren werden, scheint es sich sehr schnell zu entwickeln. In jedem Fall denke ich, dass es erstaunlich ist, wie wir Quantitätsinformationen nutzen um uns einen Sinn aus der Welt zu machen.“

Die Forscherin plant, in weiteren Versuchen zu erforschen, wie sich dieses System der quantitativen Bewertung unter normalen und atypischen Bedingungen, wie beispielsweise der Dyskalkulie, entwickelt. Dyskalkulie ist die Entsprechung der Lese-Rechtschreibschwäche im mathematischen Bereich, die Betroffenen haben „keinen Sinn für Zahlen“. „Da unsere Welt immer technischer wird, wird auch der Beschäftigung mit Zahlen, Raum und Zeit mehr Beachtung geschenkt“, so Lourenco. „Ich möchte mehr über die der Dyskalkulie zugrunde liegenden Ursachen erfahren und vielleicht einen Ansatzpunkt finden, wie Kindern geholfen werden kann, die Schwierigkeiten mit quantitativem Denken haben.“

(Emory University, 17.06.2010 – NPO)

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