Ist „Ardi“, das weltberühmte Fossil des Ardipithecus, doch kein Vorfahre des Menschen? In „Nature“ erklären Anthropologen jetzt, dass es ebenso wahrscheinlich sei, dass dieses und einige andere vermeintliche Vormenschen in Wirklichkeit frühe Menschenaffen waren. Sie werfen ihren Kollegen vor, vorschnell menschenähnliche Merkmale als stammesgeschichtliche Indizien zu interpretieren, obwohl diese auch unabhängig entstanden sein könnten.
Als Wissenschaftler vor einigen Jahren in der äthiopischen Afar-Senke fossile Skelette des 4,4 Millionen Jahre alten Ardipithecus ramidus entdeckten, war dies eine Sensation: Denn der Fund galt als ältester bekannter Vorfahre des Menschen. Eindeutig noch ans Klettern angepasst, wies „Ardi“, wie das vollständigste der Fossilien getauft wurde, einige Merkmale auf, die sich deutlich von dem unterschieden, was man bei einem Menschenvorfahren erwartet hätte. Dennoch galt Ardipithecus, ähnlich wie auch die etwas jüngeren Funde von Orrorin tugenensis und Sahelanthropus tchadensis als Vormensch.
Voreilig den Vormenschen zugeordnet?
Das aber ist voreilig und vermutlich sogar falsch – das jedenfalls erklären jetzt Anthropologen der George Washington und der New York Universität. Sie kritisieren den Hang vieler Kollegen, bei menschenähnlichen Merkmalen automatisch von einer Homologie – einer Ähnlichkeit von Merkmalen aufgrund stammesgeschichtlicher Verwandtschaft auszugehen. Ähnliche Anpassungen gebe es in der Evolution sehr häufig auch bei nicht eng verwandten Arten. Bei der Interpretation von fossilen Primaten müsse daher besonders differenziert vorgegangen werden.
„Verstehen Sie mich nicht falsch, das sind alles wichtige Funde”, erklärt Bernard Wood, Professor für evolutionäre Anthropologie an der George Washington Universität. „Aber einfach anzunehmen, dass alles, was in diesem Zeitrahmen gefunden wird, ein menschlicher Vorfahren sein muss, ist naiv.“
Merkmale nicht ererbt, sondern unabhängig entwickelt?
So seien beispielsweise für einige der Menschenaffenvorfahren apomorphe – unabhängig voneinander entstandene – Merkmale bekannt, in der menschlichen Linie jedoch wird dies bei der Fossilieninterpretation meist nicht berücksichtigt. Bei Ardipithecus und Sahelanthropus gelten beispielsweise die verkleinerten Eckzähne als eines der überzeugendsten Indizien für ihren Status als Vormenschen.
Doch gerade die Reduktion der Eckzähne, so argumentieren die Wissenschaftler jetzt, ereignete sich bekanntermaßen in der Linie der Menschenaffen mehrfach unabhängig voneinander. Als Anpassung an einen Wandel der Ernährung. Warum also soll ausgerechnet Ardipithecus diese Anpassung geerbt und nicht selbständig entwickelt haben, wie so viele seine Verwandten?
Nur der „Ur-Opa“ der Menschenaffen?
Nach Meinung der Forscher spricht einiges dafür, dass es sich bei diesen Fällen weniger um direkte Vorfahren, als vielmehr um Verwandte, möglicherweise sogar eher Vorfahren der heutigen Menschenaffen handelt. Beide Linien trennten sich nach heutigem Wissensstand vor sechs bis acht Millionen Jahren. Während es einfach ist, heute zwischen einem modernen Schimpansen und Menschen zu unterschieden, ist dies für Fossilien aus der Zeit vor mehreren Millionen Jahren deutlich schwerer. Denn zu diesem Zeitpunkt, kurz nach der Aufspaltung beider Linien, waren die Ähnlichkeiten deutlich größer.
„Wir sagen nicht, dass diese Fossilien definitiv keine frühen menschlichen Vorfahren sind“, so Terry Harrison, Professor für Anthropologie an der New York Universität. „Aber ihr Status ist eher vermutet als adäquat demonstriert und es gibt eine ganze Anzahl von alternativen Interpretationen die möglich wären. Wir glauben, dass es genauso wahrscheinlich oder sogar wahrscheinlicher ist, dass es sich hier um fossile Menschenaffen handelt, die nahe am gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen stehen.“
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein früher Menschenaffe fälschlich als Frühmensch eingeordnet wird: So galt der vor rund acht Millionen Jahren in Südostasien lebende Ramapithecus in den 1960er Jahren noch als Vormensch, heute ist klar, dass er ein naher Verwandter des Orang-Utans ist. Auch der aus der gleichen Zeit stammende Oreopithecus bambolii zeigt viele Ähnlichkeiten mit dem frühen Menschen, unter anderem konnte er vermutlich sogar bereits aufrecht gehen. Doch zahlreiche andere Merkmale seiner Anatomie deuten darauf hin, dass er eher in die Linie der Menschenaffen einzuordnen ist. Die Ähnlichkeiten zu frühen Menschen haben sich wahrscheinlich unabhängig von diesen entwickelt.
(New York University, 18.02.2011 – NPO)