Die Tiergruppe der Anomalocarida galt als gegen Ende des Kambriums ausgestorben, doch die wahrscheinlich größten Meeresbewohner ihrer Zeit haben offenbar noch mindestens 30 Millionen Jahre länger überlebt. Das belegen in Marokko entdeckte 480 Millionen Jahre alte Fossilien dieser exotisch anmutenden Meeresräuber. Wie die Forscher in „Nature“ berichten, sind diese Anomalocarida mit mehr als einem Meter Länge für damalige Verhältnisse wahre Riesen.
Die Anomalocarida galten als die „Riesen“ des Kambrium: Vor mehr als 500 Millionen Jahren bevölkerten diese zwischen 60 und 120 Zentimeter langen mehrgliedrigen Tiere in vielfältiger Form die Ozeane. Sie besaßen keine Zähne, sondern nur weiche Hornplatten im Mund, dafür trugen sie daran zwei lange, gegliederte Greifer – vermutlich um die Nahrung zum Mund zu befördern. Über ihre Lebensweise ist, über ihre aasfressende oder räuberische Ernährung hinaus, kaum etwas bekannt, da sie nur in wenigen Fossilien erhalten sind und – so dachte man bisher – am Ende des Kambrium allesamt ausstarben. Weil Weichteile und andere nicht verknöcherte Bestandteile nur sehr selten als Fossilien konserviert werden, ist die Tierwelt dieser frühen Phase der Evolution noch immer nur bruchstückhaft bekannt.
„Die Anomalocariden gehören zu den ikonischsten Gruppen der kambrischen Tierwelt“, erklärt Derek Briggs, Direktor des Yale Peabody Museum of Natural History. „Diese wirbellosen Prädatoren und Aasfresser sind geradezu zur Symbolfigur geworden für die ungewöhnlichen Morphologien der Organismen, die sich früh als Seitenäste am Stammbaum der Tiere entwickelten und dann ausstarben.“
Urmeer-Riesen überlebten bis ins Ordovizium
Doch wie sich jetzt herausgestellte hat, haben zumindest die Anomalocariden offenbar doch etwas länger durchgehalten als bisher angenommen: Gemeinsam mit seinem Kollegen Peter Van Roy entdeckte Briggs in einem fossilen Seegrund in Marokko Fossilien dieser Tiergruppe, die nur 488 bis 472 Millionen Jahre alt sind. Damit ist dies der erste Beleg dafür, dass die Anomalocariden das Zeitalter des Kambriums überlebten und noch mindestens 30 Millionen Jahre länger, bis ins Ordovizium hinein, in den Urmeeren vorkamen.
„Die neuen Entdeckungen deuten darauf hin, dass auch Tiere, die als typisch für das Kambrium gelten, wie die Anomalocariden, noch viele Millionen Jahre später einen bedeutenden Einfluss auf die Biodiversität und Ökologie der marinen Lebensgemeinschaften hatten“, so Van Roy. Die neu entdeckten Fossilien waren mehr als einen Meter lang und damit für diese Zeit wahre Riesen. An jedem Segment ihres Körpers trugen sie blattartige Anhänge, die nach Ansicht der Forscher als Kiemen gedient haben müssen. Die auf dem schlammigen Meeresboden umherkriechenden Tiere waren wahrscheinlich so außergewöhnlich gut erhalten, weil aufgewirbeltes, feines Sediment sie dicht bedeckte und so die Weichteile vor Zerfall und Zersetzung schützte. (Nature, 2011; DOI: 10.1038/nature09920)
(Yale University, 30.05.2011 – NPO)