Unsere natürliche Darmflora ist wahrscheinlich der lange gesuchte Auslöser der Multiplen Sklerose: Die unter normalen Bedingungen unschädlichen Bakterien können bei genetisch vorbelasteten Menschen eine Überreaktion des Immunsystems auslösen. Das berichten deutsche Forscher im Fachmagazin „Nature“. Als Folge greife die köpereigene Abwehr das eigene Nervensystem an und löse damit die Multiple Sklerose aus.
Bekannt war bisher, dass die nervenzerstörende Autoimmunkrankheit sowohl auf genetischer Veranlagung als auch auf noch unbekannten Umweltfaktoren beruht. Als mögliche Kandidaten für solche Faktoren galten bislang unter anderem verschiedene Krankheitserreger. Jetzt habe man jedoch stattdessen nützliche Bakterien als Auslöser identifiziert, sagen die Wissenschaftler.
Ihre Entdeckung machten die Forscher mit Hilfe genetisch veränderter Mäuse. Bei diesen Tieren treten normalerweise Entzündungsreaktionen im Gehirn auf, die der multiplen Sklerose beim Menschen ähneln. Wurden die Tiere jedoch in keimfreier Umgebung ohne Mikroorganismen im Darm gehalten, blieben sie gesund. Impften die Wissenschaftler diese Mäuse nachträglich mit normalen Darmbakterien, erkrankten auch sie.
Könnte die Ernährung den Ausbruch von MS verhindern?
Die Wissenschaftler sind sich sicher, dass auch die Darmflora des Menschen bei entsprechender genetischer Veranlagung multiple Sklerose hervorrufen kann. Die neuen Erkenntnisse könnten bedeuten, dass der Ernährung eine zentrale Rolle bei der multiplen Sklerose zukommt. Denn was wir essen, bestimmt maßgeblich, welche Bakterien den Darm besiedeln. „Veränderte Essgewohnheiten könnten beispielsweise eine Erklärung dafür sein, warum die multiple Sklerose in asiatischen Ländern in den letzten Jahren zugenommen hat“, erklärt Hartmut Wekerle, Direktor am Max-Planck-Institut für Neurobiologie und einer der Autoren der Studie.
Aktivierung von Abwehrzellen im Darmtrakt
Die Forscher gewannen in ihrer Studie auch erste Einsichten dazu, wie die Darmflora zum Ausbruch der Multiplen Sklerose führen könnte: „Offenbar wird das Immunsystem in zwei Phasen aktiviert: Zunächst werden T-Zellen in den Lymphgefäßen des Darmtrakts aktiv und vermehren sich“, erklärt Studienleiter Gurumoorthy Krishnamoorthy, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie.
Mögliche Auslöser für die Aktivierung dieser Abwehrzellen könnten Clostridien sein, mutmaßen die Forscher. Diese Bakterien seien Bestandteil einer gesunden Darmflora und träten häufig in direkten Kontakt mit der Darmwand. Bei genetisch für MS veranlagten Menschen könnte dieser Kontakt die T-Zellen aktivieren. Dieser Schritt löse dann eine Reihe von Prozessen aus, die letztlich zu den für Multiple Sklerose typischen Entzündungsreaktionen im Gehirn führen, erklären die Forscher.
Nach Ansicht der Forscher löst diese Erkenntnis auch ein seit langem bestehendes „Henne-Ei“-Problem: Bisher war unklar, ob das Nervensystem oder das Immunsystem den Ausbruch der Krankheit auslöst. „Die Frage nach Ursache und Folge beschäftigt die multiple Sklerose-Forschung seit langem. Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass das Immunsystem die treibende Kraft ist“, sagt Wekerle.
Welche Bakterien am Ausbruch der Autoimmunerkrankung beteiligt sind, ist aber noch unklar. Als nächstes wollen die Wissenschaftler deshalb das gesamte mikrobielle Genom von Patienten mit multipler Sklerose analysieren und so Unterschiede in der Darmflora zwischen gesunden Menschen und MS-Patienten aufspüren. (Nature, 2011; DOI:10.1038/nature10554)
(Max-Planck Gesellschaft / Nature, 27.10.2011 – NPO)