Die Gruppen von Neandertalern, die in der letzten Eiszeit durch Europa streiften, hatten wahrscheinlich keine größeren Herausforderungen zu bewältigen als die heutigen Inuit. Diese Schlussfolgerung ziehen Forscher der Ohio State Universität in einer neue Studie und widerlegen damit die bisherige Annahme von Anthropologen, dass das Leben der Neandertaler zu entbehrungsreich war, um ihrer Art die langfristige Koexistzenz mit dem modernen Menschen, Homo sapiens, zu erlauben.
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Die Beweise, die der alten Theorie den Garaus machen könnten, liegen in winzigen Eindellungen, die die Zähne dieser frühzeitlichen Menschen bedecken. Der Neandertaler, Homo neanderthalensis, war vor 200.000 bis rund 30.000 Jahren die dominierende Menschenart in ganz Europa und dem Westen Asiens. Knochenreste der frühzeitlichen Jäger wurden südlich bis im Irak und nördlich bis nach Grossbritannien gefunden.
Vor rund 30.00 Jahren jedoch starb die Art relativ plötzlich aus – aus bisher ungeklärten Gründen. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass ihr Leben unter extrem harschen, eiszietlichen Bedingungen gekoppelt mit ihren nur begrenzten technischen Fähigkeiten, letztendlich zu ihrem Aussterben führte. Vor rund 40.000 Jahren erreichte der moderne Mensch Homo sapiens Europa und überlebte mithilfe seiner erheblich höheren Fertigkeiten.
Zahnschmelz gibt Auskunft über Hungerperioden
Doch die Studie von Debbie Guatelli-Steinberg, Professorin für Anthropologie und Biologie an der amerikanischen Ohio State Universität könnte diese Sicht auf die vermeintlich „unterträglichen“ Lebensbedingungen der Neandertaler ändern. Die Wissenschaftlerin hat das letzte Jahrzehnt damit verbracht, winzige Defekte im Zahnschmelz von Primaten, modernen und frühen Menschen zu studieren. Diese so genannten lineare Schmelz Hypoplasie dient als Marker für Perioden während der Kindheit, in der Nahrung knapp war. Die winzigen horizontalen Linien und Gruben im Zahnschmelz entstehen, wenn der normale Prozess der Zahnschmelzbildung durch Mangelernährung unterbrochen wird.
„Blickt man auf diese fosssilsierten Zähne kann man leicht die Defekte erkennen, die zeigen, dass die Neandertaler periodisch unterernährt waren“, erklärt Guatelli-Steinberg. „Aber ich wollte wissen, ob dieser Kampf um Nahrung härter war als der von moderneren Menschen.“ Um diese Antwort zu finden untersuchte die Forscherin zwei Sammlungen von Skelettresten: Eine von mehr als 40.000 Jahre alten Neandertalerschädeln verschiedener Herkunft, die andere ein Satz von rund 2.500 Jahre alten Inuitschädeln aus Point Hope in Alaska, die im amerikanischen Naturkundemuseum in New York aufbewahrt werden.
Inuit hungerten mehr
Sie analysierte die Zähne beider für Anzeichen linearer Schmelz-Hypoplasie und anderen Hinweisen auf Mangelernährung und stellte fest, dass bis zu drei Monate lange Zeiten des Hungerns sowohl für die Neandertaler als auch für die Inuit nicht ungewöhnlich waren. Tatsächlich zeigten die Inuitzähne sogar mehr Mangelerscheinungen und deuten an, dass sie sogar längere Hungerperioden durchstehen mussten als die Neandertaler.
„Die Ergebnisse zeigen, dass die Neandertaler nicht schlechter dran waren als die Inuit, die unter ähnlich harschen Umweltbedingungen lebten, trotz der tatsache, dass die Inuit viel ausgereiftere Technologien benutzten“, so die Wissenschaftlerin. „Es ist schon erstaunlich, dass die Neandertaler nicht so stark unter Entbehrungen gelitten haben, wie wir dachten.“ Jetzt plant die Forscherin ähnliche Vergleichstests mit Zähnen des Cro-Magnon-Menschen, der in Europa lebte nachdem die Neandertaler ausgestorben waren.
(Ohio State Universtity, 03.09.2004 – NPO)