Magersucht kann tödlich sein – dann nämlich, wenn keine Form der Therapie anschlägt und die Betroffenen sich buchstäblich zu Tode hungern. Jetzt aber gibt es neue Hoffnung: In einer Pilotstudie hat die sogenannte Tiefe Hirnstimulation Patientinnen mit chronischer Magersucht messbar geholfen. Sie nahmen über Monate hinweg an Gewicht zu und litten weniger unter Depressionen und Zwangsstörungen, wie die Forscher im Fachmagazin „The Lancet“ berichten. Sollten weitere Tests dieses positive Ergebnis bestätigen, könnte dies eine lebensrettende Alternative für besonders schwere Fälle eröffnen.
Magersucht, fachsprachlich als Anorexia nervosa bezeichnet, gehört besonders unter jungen Frauen zu den häufigsten psychiatrischen Störungen. Typischerweise hören die Betroffenen auf, ausreichend zu essen oder erbrechen ihre Mahlzeiten wieder und versuchen oft auch durch übertriebenen Sport, sich so dünn wie möglich zu hungern. Meist steht eine Störung des Körperbilds dahinter: Obwohl sie krankhaft abgemagert sind, empfinden sich viele Betroffene dennoch als zu dick. Bei vielen wird die Magersucht durch zusätzliche psychische Symptome begleitet wie Depression, Angststörungen und Zwänge. Helfen kann in einigen Fällen eine Psychotherapie, meist müssen die Patienten dann über Jahre hinweg therapeutisch begleitet werden.
Bis zu 20 Prozent der Betroffenen profitieren von diesen klassischen Therapien jedoch nicht, ihre Magersucht bessert sich nicht und in bis zu 15 Prozent der Fälle führt die Störung letztlich zum Tode. „Zusätzliche Therapien für diejenigen, die an schwerer Anorexie leiden, werden daher dringend gebraucht“, erklärt Blake Woodside von der University of Toronto. Keine andere psychische Erkrankung fordere so viele Todesopfer vor allem unter jungen Frauen wie diese Essstörung. „Jede Behandlung, die den Verlauf dieser Krankheit ändert und bessert, gibt daher nicht nur neue Hoffnung, sondern rettet buchstäblich auch Leben“, betont der Forscher.
Elektrode stimuliert Stimmungszentrum
Und eine solche lebensrettende Hilfe für schwere Anorexie-Fälle könnten die Wissenschaftler nun entdeckt haben: die Tiefe Hirnstimulation. Bei diesen Verfahren wird eine feine Elektrode in das Gehirn eingepflanzt und reizt dann gezielt ein bestimmtes Hirnareal mit leichten Stromschlägen. Bei Parkinson-Patienten beispielsweise führt dies dazu, dass ihre Bewegungsstörungen nachlassen und auch Patienten mit einer schweren klinischen Depression erlebten in ersten Studien deutliche Besserung. Weil Patienten mit Anorexie eine ähnlich anormale Aktivität in einem bestimmten Hirnareal aufweisen wie Depressive, testeten die Wissenschaftler nun in einer ersten Pilotstudie, ob diese Behandlung auch Magersüchtigen helfen könnte.
Für ihre Studie pflanzten sie sechs Frauen im Alter zwischen 24 und 57 Jahren, die an chronischer Anorexie litten, eine Elektrode in einen Teil des Cingulums, eine Hirnregion, die für die Regulation der Stimmung und für die Eigenwahrnehmung wichtig ist. Zehn Tage nach der Operation begann die Elektrode, leichte Strompulse ins Gehirn zu senden. Innerhalb der folgenden Wochen und Monate überwachten die Forscher die psychische Befindlichkeit und die Gewichtsentwicklung der Probandinnen.
Mehr Gewicht, weniger Zwänge
Das Ergebnis: Neun Monate nach der Operation hatten drei der sechs Patientinnen so viel an Gewicht zugenommen, wie noch nie zuvor im Verlauf ihrer Krankheit. Vier der sechs Frauen erlebten eine deutliche Verbesserung in Bezug auf ihren psychischen Zustand, sie verspürten seltener den Drang, sich zu erbrechen, ihre Stimmung war ausgeglichener und sie bewerteten auch ihre Lebensqualität als besser, wie die Forscher berichten. Und auch im Gehirn habe sich bei allen Teilnehmerinnen eine messbare Veränderung gezeigt: Die Aktivität in dem durch die Stimulation beeinflussten Teil des Cingulums, aber auch in anderen Hirnarealen hatte sich stärker normalisiert.
Noch sei diese Behandlung experimentell und dies nur eine erste Pilotstudie, betonen die Forscher. Dennoch sei das Ergebnis sehr vielversprechend. Die Tiefe Hirnstimulation habe sich bei den Patientinnen nicht nur als sicher erwiesen, sondern auch Wirksamkeit gezeigt. Damit könnte sich zukünftig eine Möglichkeit eröffnen, auch den Magersüchtigen zu helfen, die auf die klassischen Therapien nicht ansprechen. (The Lancet, 2013; doi: 10.1016/S0140-6736(12)62188-6)
(Lancet/ University Health Network, 07.03.2013 – NPO)