Die Kinder der Neandertaler wurden vermutlich genauso früh abgestillt wie unsere Babys heute: Nach rund sieben Monaten bekamen sie erste feste Nahrung zusätzlich, nach 14 Monaten war dann endgültig Schluss mit der Muttermilch. Das ist früher als bisher angenommen. Denn selbst in vielen heutigen Naturvölkern stillen Mütter ihre Kinder noch mehr als zwei Jahre lang. Diesen Einblick in das Leben unserer frühen Vettern haben US-Forscher mit Hilfe einer raffinierten Methode gewonnen, wie sie in „Nature“ berichten: Sie analysierten das Verhältnis bestimmter Elemente im Zahnschmelz eines fossilen Neandertaler-Milchzahns.
Ob und wie lange ein Kind gestillt wird, ist für seine spätere Gesundheit enorm wichtig. So weiß man, dass Muttermilch viele Substanzen enthält, die das Immunsystem der Kinder stärken und vorbereiten. Gleichzeitig hat der Zeitpunkt des Abstillens auch Auswirkungen auf die Reproduktion: Stillt die Mutter früh ab, kann sie schneller wieder schwanger werden. Unter anderem deshalb sind Archäologen und Anthropologen sind daher sehr daran interessiert, mehr über die Stillgewohnheiten unserer Vorfahren zu erfahren. Die Neandertaler sind dabei von besonderem Interesse, weil immer noch nicht klar ist, wie sie so vollständig vom eingewanderten Homo sapiens verdrängt werden konnten.
Barium im Zahnschmelz als Indikator
Bisher allerdings fehlte ein biologischer Marker, mit dem man allein anhand fossiler Relikte etwas zur Länge des Stillens früher Menschen erfahren konnte. Christine Austin von der Harvard University in Boston und ihre Kollegen haben jetzt jedoch einen solchen Marker identifiziert. Wie sie anhand von 25 Milchzähnen heutiger Kinder feststellten, verrät der Gehalt der Elemente Barium und Kalzium im Zahnschmelz viele über die Ernährung und insbesondere den Anteil der Muttermilch daran.
Solange ein Kind noch im Mutterleib ist, nimmt es relativ wenig Barium auf. Kurz nach der Geburt steigt der Spiegel dann plötzlich deutlich an, weil mehr Barium über die Muttermilch aufgenommen wird. Sobald zusätzlich andere Nahrung gegeben wird, sinkt das Verhältnis Barium zu Kalzium wieder, und wenn das Kleine entwöhnt wird, fällt es noch einmal ab. Diesen Marker nutzten die Forscher anschließend, um damit auch den Backenzahn eines Neandertaler-Kindes zu kategorisieren. Die 80.000 bis 125.000 Jahre alten Relikte dieses Kindes waren in Belgien entdeckt und bereits zuvor genau untersucht und datiert worden. Das Alter des Kindes war daher ziemlich genau bekannt.
Abgestillt schon nach 14 Monaten
Anhand der Elementwerte in dem Backenzahn konnten die Forscher nun erkennen, dass der Bariumgehalt direkt nach der Geburt des Neandertaler-Kindes stark anstieg – ein Zeichen dafür, dass es von seiner Mutter gestillt wurde. Die Stillphase hielt rund 7,5 Monate an, wie die Forscher berichten. Danach scheint das Kind zusätzlich andere Nahrung bekommen zu haben, denn die Bariumwerte in seinem Zahn sanken ab. Und auch wann endgültig Schluss war mit der Muttermilche belegten die Analysen: Das endgültige Abstillen fand statt, als das Kind 14 Monate alt war.
Dieser Ablauf passe zumindest am Anfang noch gut zu denen anderer Hominiden, kommentiert das Team. Auch Menschen aus urtümlich lebenden Jäger-Sammler-Gesellschaften und Schimpansen beginnen mit dem Zufüttern, wenn ihr Nachwuchs etwa sechs Monate alt ist. Allerdings stillen sie im Schnitt später ab: die Jäger-Sammler nach etwa zweieinhalb Jahren und die Schimpansen erst nach mehr als fünf Jahren. Das Neandertaler-Kind scheint dagegen früh und auch ziemlich plötzlich entwöhnt worden zu sein: Statt der erwarteten langen Übergangsphase fanden die Forscher einen sehr abrupten, starken Abfall des Barium-Werts nach etwa 14 Monaten. Es müsse also etwas passiert sein, das der Mutter – oder Amme – das Stillen nach dieser Zeit unmöglich machte, interpretieren sie.
Ob unsere direkten Vorfahren, die ersten nach Europa kommenden modernen Menschen, ein ähnliches Stillverhalten zeigten, oder ob ihre Kinder möglicherweise länger Muttermilch erhielten, wollen die Forscher als nächstes herausfinden. Dafür müssen sie nun auch Zähne des frühen Homo sapiens auf ihre Barium und Kalzium-Werte hin untersuchen. Erst dann könne man sehen, ob dieser Aspekt der Kinderfürsorge bei beiden Menschenarten unterschiedlich war und ob er möglicherweise mit eine Rolle dafür spielte, dass unsere Vorfahren sich gegen ihre Vettern durchsetzten. (Nature, 2013; doi: 10.1038/nature12169)
(Nature, 23.05.2013 – ILB/NPO)