Versteckt unter dem Eis Grönlands liegt eine gigantische Schlucht, die sich von der Mitte der Rieseninsel bis an ihren Nordrand erstreckt. Der neu entdeckte Mega-Canyon ist 750 Kilometer lang und mehrere Kilometer breit, wie ein internationales Forscherteam im Fachmagazin „Science“ berichtet. Seine Existenz könnte eines der Rätsel der Glaziologie lösen: Warum es in der Antarktis zahlreiche subglaziale Seen gibt, in Grönland aber augenscheinlich nicht.
Ob Wostok-See, Lake Whillans oder andere: Das Eis der Antarktis ist förmlich unterhöhlt von einem ganzen System aus subglazialen Seen und verbindenden Strömen. In ihnen sammelt sich das Schmelzwasser von der Unterseite der Gletscher und Eisschilde und wird letztlich ins Meer befördert. Für Grönland jedoch war ein solches Netzwerk aus subglazialen Seen und Flüssen bisher nicht bekannt. Das aber wirft eine entscheidende Frage auf: Was passiert mit dem Schmelzwasser auf dieser arktischen Rieseninsel?
Die Antwort darauf ist wichtig vor allem für die Stabilität des Eisschilds: Bleibt das Wasser großflächig stehen und bildet einen Film, wirkt dies wie ein Schmiermittel für das tonnenschwer darüber liegende Eis. Die Gletscher und Eisplatten rutschen dann auf diesem Wasserfilm umso schneller in Richtung Ozean. Wird dieses Schmelzwasser aber durch ein Netz von Kanälen und Gräben abgeleitet, bremst die Reibung mit dem Untergrund die Gletscher ab und hält das Eisschild stabil. Gerade angesichts des Klimawandels ist es daher wichtig, möglichst genau zu wissen, wie es unter dem Eis Grönlands aussieht.
Spezial-Radar blickt unter das Eis
Doch die unter dem Eis verborgene Landschaft ist von der Oberfläche aus nicht sichtbar. Ihre Form lässt sich nur mit speziellen Radarinstrumenten aufspüren. Dieses sogenannte Ice-Penetrating Radar (IPR) nutzt elektromagnetische Wellen einer bestimmten Frequenz, für die das Eis quasi transparent ist: Sie durchdringen es problemlos und werden dann von den verschiedenen Oberflächenformen des Gesteinsuntergrunds zurückgeworfen. Aus diesen Signalen können die Forscher dann die Topografie der Landschaft unter dem Eis rekonstruieren.
Diese Technologie wird auch in Grönland bereits seit Jahrzehnten genutzt, bisherige Kartierungen waren aber ungenau und erfassten nur Teile der Landmasse. Auf einigen von ihnen war bereits eine fast gerade Struktur zu erkennen, die im Norden Grönlands in Nord-Südrichtung verlief. Worum es sich dabei handelte und wie groß sie war, blieb aber unklar. Jonathan Bamber von der University of Bristol und seine Kollegen haben nun Tausende an Kilometern von Radar-Daten der letzten Jahrzehnte erneut ausgewertet und die Form des Untergrunds für weite Teile Mittel- und Nordgrönlands rekonstruiert.
Grand-Canyon Grönlands
Mit einem überraschenden Ergebnis: „Wir haben entdeckt, dass die linienartige Struktur in Wirklichkeit ein gewaltiger subglazialer Canyon ist, der sich von Zentral-Grönland bis an den Nordrand des Eisschilds erstreckt“, berichten die Forscher. An der Nordwestküste Grönlands mündet diese Schlucht unterhalb des Petermann Gletschers in das Nordpolarmeer.
Die Messdaten zeigen, dass der Canyon insgesamt rund 750 Kilometer lang ist und in Breite und Tiefe zwischen 800 Metern und 10 Kilometern variiert. Die Breite und Länge dieses Canyons seien damit vergleichbar mit denen von Teilen des Grand Canyon in den USA, so Bamber und seine Kollegen. Nur die Tiefe ist etwas geringer, die Schlucht unter Grönlands Eis reicht nur etwa halb so tief. „Eine Entdeckung dieser Dimension zeigt, dass die Erde noch lange nicht alle ihre Geheimnisse preisgegeben hat“, kommentiert David Vaughan vom British Antarctic Survey die Studie seiner Kollegen.
Drainage fürs Schmelzwasser
Ein so großer Canyon unter dem Eis ist schon per se ein atemberaubender Fund. Aber er gibt auch einen wertvollen Einblick darin, wie Grönland vor Beginn der Vergletscherung vor rund 3,5 Millionen Jahren aussah. Wie die Kombination der Radardaten mit einem geologischen Modell ergab, war der Canyon schon damals tief und ausgedehnt genug, um große Wassermengen nordwärts ins Meer zu transportieren. Sein Gefälle habe bei rund 30 Zentimeter pro Kilometer gelegen, wie Bamber und seine Kollegen berichten. Das sei immerhin drei Mal stärker als der Durchschnitt für den Mississippi.
Als dann die Rieseninsel vergletscherte, sorgte das extrem harte, sehr alte Untergrundgestein dafür, dass sich selbst unter dem enormen Druck des Eises die Form der Schlucht kaum veränderte. Auch heute dient der neuentdeckte Canyon deshalb wahrscheinlich weiter als Drainage: Die Forscher gehen davon aus, dass einiges an Schmelzwasser über diese subglaziale Schlucht abtransportiert wird. „Der Canyon liefert einen effizienten Weg, um dieses Wasser aus der ansonsten eher flachen Topografie abzuführen“, erklären sie. Das könne das Fehlen von subglazialen Seen in Grönland zumindest teilweise erklären: Das Schmelzwasser fließt ab, statt sich zu sammeln.
Rätselhafte Eiskanäle erklärt
Die Schlucht unter dem Eis könnte aber auch noch eine weitere bisher offene Frage klären: In Eisschelf vor der Mündung des Petermann Gletschers ins Nordmeer haben Forscher schon vor einige Zeit große eisfreie Kanäle entdeckt. Sie sind ein bis zwei Kilometer breit und haben sich von der Unterseite des Schelfs 200 bis 400 Meter weit ins Eis emporgefressen.
Bisher dachte man, dass der sich erwärmende Ozean diese seltsamen Formationen erzeugt hat. Bamber und seine Kollegen vermuten jedoch, dass das an dieser Stelle aus dem Canyon ins Meer strömende Schmelzwasser diese Kanäle verursacht haben könnte. In jedem Falle zeige die Entdeckung der Mega-Schlucht eines: „Es gibt noch viel zu entdecken.“ (Science, 2013; doi: 10.1126/science.1239794)
(Science, 30.08.2013 – NPO)