Sie sind so hoch wie der Eiffelturm und hunderte Kilometer lang: Das Schelfeis der Westantarktis ist an seiner Unterseite von gewaltigen Kanälen durchzogen, wie britische Forscher jetzt entdeckt haben. Vermutlich hat vom Land einströmendes Schmelzwasser das Strömungen unter dem Eis so verändert, dass aufsteigendes Warmwasser diese Rinnen ins Eis getaut hat. Die neu entdeckten Kanäle könnten das Verhalten der schwimmenden Eisdecken verändern und sie anfälliger gegenüber einem Zerbrechen oder weiteren Abschmelzen machen, so die Forscher im Fachmagazin „Nature Geoscience“.
Wie sich das Schmelzwasser unter einer Eisdecke verteilt, spielt eine wichtige Rolle für die Bewegung von Gletschern, aber auch für die Stabilität von Eisschilden. Von der Antarktis ist bereits bekannt, dass die Eisdecke über der Landmasse von Dutzenden subglazialen Seen und verbindenden Kanälen durchzogen ist. Auch unter dem Grönlandeis wurde erst vor kurzem ein gewaltiger Canyon entdeckt, der das Schmelzwasser sammelt und nach Norden ableitet.
Forscher um Anne M. Le Brocq von der University of Exeter haben nun auch an der Unterseite des antarktischen Schelfeises gewaltige Kanäle entdeckt. Diese von unten ins Filchner-Ronne-Schelfeis in der Westantarktis hineinragenden Wasserrinnen sind bis zu 250 Meter hoch, 300 Meter breit und mehrere hundert Kilometer lang. Ihre Höhe erreicht damit fast die des Eiffelturms. Entdeckt wurden diese Mega-Rinnen mit Hilfe von Radarmessungen, Luftaufnahmen und Satellitenbildern.
Konzentrierter Einstrom
Wie aber sind diese Eiskanäle entstanden? Le Brocq und ihre Kollegen vermuten, dass vom Land einströmendes Schmelzwasser für ihre Bildung eine wichtige Rolle spielt. „Die Eisschelf-Kanäle korrespondieren mit den Austrittsorten von subglazialem Schmelzwasser von der Unterseite der Gletscher“, erklären sie. Vermutlich sammelt sich dieses Wasser zunächst in Senken und subglazialen Kanälen auf dem Land und fließt dann gebündelt in das Meer unter dem Schelfeis. Weil das Schmelzwasser weniger salzig ist als das Meerwasser, steigt es auf und zieht dabei wärmeres Wasser mit. Dieses taut die Unterseite des Eisschelfs dann an.
Ist der Anfang einmal gemacht, wachsen die Kanäle durch eine positive Rückkopplung immer weiter: „Wenn sich einmal eine kleine Rinne an der Unterseite des Schelfeises gebildet hat, sorgt das dort verstärkte Abtauen dafür, dass sie sich schnell erweitert“, so die Wissenschaftler. „Dadurch wiederum wird der Strom des Schmelzwassers immer stärker in diesem Kanal konzentriert.“ Erst nach einigen hundert Kilometern legt sich dieser Effekt und der Kanal hört dort auf.
Le Brocq und ihre Kollegen schätzen die Abtau-Rate, mit der diese Kanäle wachsen auf rund fünf Meter pro Jahr. Ihrer Einschätzung nach reicht schon ein subglazialer Fluss, der an Land nur wenige Meter Breite hat, um dann im Eisschelf Kanäle von hunderten Metern zu erzeugen. „Ein solcher lokalisierter Einstrom von Schmelzwasser hat einen Einfluss auf die Schmelzraten der Eisschelf-Unterseite, vor allem an der Grundlinie der Küstengletscher“, erklären die Forscher. Als Grundlinie bezeichnet man die Zone, in der die Gletscherzunge sich an der Küste vom Untergrund löst und in das schwimmende Schelfeis übergeht.
Wichtig für Prognosen der Eisschmelze
Welche Auswirkungen diese Kanäle auf die Stabilität des Schelfeises haben, muss nun noch genauer untersucht werden. „Die Information die wir aus diesen neu entdeckten Kanälen ziehen, wird uns dabei helfen, besser zu verstehen, wie dieses Eis-Wasser-System funktioniert und damit auch, wie sich das Eisschelf in der Zukunft verhalten wird“, sagt Le Brocq. Bisherige Modelle der Eisdecken und Schelfeise sehen solche Strukturen und ihren potenziellen Einfluss nicht vor.
Klar ist aber, dass es vor allem an Land eine große Rolle spielt, wie das Schmelzwasser unter dem Gletschereis abfließt: Bildet es einen dünnen, gleichmäßigen Film, rutscht der Gletscher schneller zum Meer. Fließt das Wasser durch ein Labyrinth von Kanälen zügig ab, kann es nicht als Schmiermittel dienen, die Gletscherbewegung ist daher eher gebremst. Weil die jetzt entdeckten Kanäle im Schelfeis vermutlich von subglazialen Flüssen ausgehen, erlauben sie Rückschlüsse auch auf die Verteilung des Schmelzwassers auf der antarktischen Landmasse. (Nature Geoscience, 2013; doi: 10.1038/NGEO1977)
(University of Exeter, 07.10.2013 – NSC/NPO)