Ein 24.000 Jahre altes Kinderskelett hat bisherige Theorien zur Besiedelung Amerikas und der Herkunft der ersten Indianer gründlich durcheinander gebracht. Denn das Erbgut des aus Südsibirien stammenden Kindes ist einerseits verblüffend europäisch, andererseits aber gehört sein Volk eindeutig zu den Vorfahren der Ureinwohner Amerikas, wie Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Waren die ersten Indianer also viel europäischer als bisher gedacht?
Woher stammten die ersten Ureinwohner Amerikas? Diese Frage wird seit Jahrzehnten untersucht und heiß diskutiert. Meist gelten frühe Bewohner Ostasiens als diejenigen, die sich am Ende der letzten Eiszeit auf den Weg über die Landbrücke der Beringsee machten. Die genetischen Indizien dafür waren jedoch bisher widersprüchlich. So fanden Forscher 2012 auffallende genetische Ähnlichkeiten zwischen einem Volksstamm des Altai-Gebirges im Grenzgebiet der Mongolei, China und Russlands und den amerikanischen Indianern, andere fanden Hinweise auf gleich mehrere Einwanderungswellen.
Der Anthropologe Elske Willerslev von der Universität von Kopenhagen und seine Kollegen setzten nun mit ihrer Studie an einer etwas anderen Stelle an: Sie verglichen nicht die Gene lebender Populationen, sondern analysierten das Erbgut eines Frühmenschen: des 24.000 Jahre alten Kindes von Mal’ta. Dieser jugendliche Vertreter steinzeitlicher Menschen wurde 1928 nahe einem Dorf im Süden Sibiriens entdeckt und seither im Museum der Eremitage von Sankt Petersburg aufbewahrt. Mit seinem Erbgut haben die Forscher das älteste komplette Genom eines Menschen entschlüsselt.
Erstaunlich europäisch – und trotzdem Urahn der Indianer
Die Genanalysen des Steinzeit-Kindes sorgten in gleich mehrfacher Hinsicht für Überraschung: Zum einen zeigte sein Erbgut starke Übereinstimmungen mit dem von heutigen Europäern – also einem deutlich weiter im Westen lebenden Menschentyp. „Er hat enge genetische Verbindungen mit anderen eiszeitlichen Eurasiern, die in Westen Russlands, Tschechien und sogar Deutschland gefunden wurden“, erklärt Koautorin Kelly Graf von der Texas A&M University. „Das zeigt, dass diese Eiszeitmenschen ziemlich mobil waren und sich von Mitteleuropa bis nach Zentralsibirien ausgebreitet hatten.“
Und noch etwas ergaben die Analysen: Das Kind von Mal’ta war genetisch überraschend eng mit den amerikanischen Ureinwohnern verwandt. „Wir schätzen, dass rund 34 Prozent der Vorfahren der heutigen Indianer auf dieses Kind und sein Volk zurückgehen“, sagt Graf. Das belege, dass zumindest ein großer Teil der ersten Ureinwohner Amerikas nicht aus dem fernen Osten über die quasi nebenan liegende Beringstraße kam, sondern den weiten Weg von Sibirien dorthin zurücklegte.
Erklärung für den rätselhaften Kennewick-Man?
Weil die Eiszeit-Menschen von Mal’ta eher europäisch geprägt waren – auch in ihrem Aussehen, könnte dies auch einige bisher rätselhafte Funde von frühen Ureinwohnern Amerikas erklären. So sorgte der sogenannte Kennewick Man für Aufsehen, der 1996 am Ufer des Columbia Rivers im Bundesstaat Washington entdeckt worden war. Denn obwohl er rund 9.000 Jahre alt ist, sind seine Züge eher kaukasisch als indianisch. Auch ein 10.600 Jahre alter Fund aus Nevada besitzt viele Merkmale, die nicht zu den klassisch als indianisch geltenden gehören.
Die Herkunft und Zugehörigkeit dieser Relikte ist daher bis heute umstritten. Einige Forscher vermuten, dass sie möglicherweise von frühen Einwanderern abstammen, die nicht über die Beringstraße, sondern über den Seeweg aus Polynesien oder gar Europa nach Amerika kamen. Die Genanalyse des Kindes von Mal’ta könnte nun mehr Klarheit schaffen. Denn wenn zumindest einige der Einwanderer über die Beringstraße nicht fernöstlich, sondern eher europäischen Typs waren, könnten der Kennewick Man und der Fund in Nevada durchaus ihre Nachfahren sein, so Willerslev und seine Kollegen.
Erste Besiedelung früher als gedacht?
Und auch der Zeitpunkt dieser Einwanderung über die Landbrücke könnte sich durch die neuen Ergebnisse verschieben: Denn wenn ein 24.000 Jahre altes Relikt so große genetische Ähnlichkeiten mit den amerikanischen Ureinwohnern besitzt, dann spricht dies dafür, dass diese Population nur wenig später ihre Reise angetreten hat.
„Unsere Ergebnisse deuten zumindest daraufhin, dass die Vorfahren der amerikanischen Ureinwohner Alaska und den Rest Amerikas schon viel früher als vor 14.500 Jahren besiedelten“, sagt Graf. Theoretisch könnte dies schon kurz nach der Lebenszeit des Kindes von Mal’ta der Fall gewesen sein. „Wir müssen nun weitersuchen, nach älteren Fundstellen und zusätzlichen Hinweise, um dieses große Puzzle zusammenfügen zu können“, so Graf. (Nature, 2013; doi: 10.1038/nature12736)
(Nature / Texas A&M, 21.11.2013 – NPO)