Die Ostantarktis ist instabiler als gedacht: Schmilzt nur ein kleines Eisstück an der Küste, dann könnten gewaltige Eismassen unaufhaltsam ins Meer fließen. Denn dieses Eisstück sitzt wie ein Korken auf einer Flasche am Rand einer instabilen Eisfläche, wie Forscher im Fachmagazin „Nature Climate Change“ berichten. Die Folge eines solchen „Entkorkens“ wäre ein Anstieg des Meeresspiegels um drei bis vier Meter – Küstenstädte von Mumbai bis New York wären gefährdet.
Die Ostantarktis galt bisher als Bastion gegen das fortschreitende Abschmelzen des Eises durch den Klimawandel. Denn dort lässt sich bisher nur wenig Abtauen der Gletscher feststellen. In diesem Gebiet gibt es allerdings auch sehr viel mehr Küstengletscher als in der instabileren, bereits stark angeschmolzenen Westantarktis. „Die Dynamik des ostantarktischen marinen Eisschilds zu verstehen ist daher der Schlüssel, um den künftigen Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegel-Anstieg vorhersagen zu können“, erklären Matthias Mengel und Anders Levermann vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).
Nur ein kleiner „Korken“ hält das Eis
Um genauere Daten zu erhalten, haben die Forscher nun die Dynamik des Wilkes Beckens in der Ostantarktis mit Hilfe von Satellitendaten und Computermodellen genauer untersucht. Dieses Becken ist das größte Gebiet in der Ostantarktis, dessen Untergrund unter dem Meeresspiegel liegt. Die Eisdecke liegt hier auf zwei tiefen Tälern, die Richtung Meer geneigt sind. Wie die Auswertungen der Forscher ergab, hält derzeit nur ein Eisstück an der Küste die dahinter liegenden Eismassen zurück: „Das Wilkes-Becken der Ost-Antarktis ist wie eine gekippte Flasche“, erklärt Mengel, „wenn der Korken gezogen wird, entleert sie sich.“
Ein Abschmelzen von Eis an der Küste könnte diesen relativ kleinen Korken verschwinden lassen. „Bislang galt nur die Westantarktis als instabil, aber jetzt wissen wir, dass ihr zehnmal größeres Gegenstück im Osten möglicherweise auch in Gefahr ist“, sagt Levermann. „Wenn die Hälfte dieses Eisverlustes aus der Korken-Region käme, würde das unaufhaltsame Abfließen der Eismassen beginnen. Wir haben vermutlich bislang die Stabilität der Ost-Antarktis überschätzt“, so Levermann.
Unaufhaltsame Kettenreaktion
In den Simulationen dauert das vollständige Ausströmen aller Eismassen aus der betroffenen Region in der Ost-Antarktis fünftausend bis zehntausend Jahre. Wenn diese Entwicklung jedoch erst einmal begonnen hat, wird sich das Auslaufen unaufhaltsam fortsetzen, bis das gesamte Becken leergelaufen ist – selbst wenn die Klimaerwärmung aufhören sollte. „Das ist das grundlegende Problem hier“, sagt Mengel. „Indem wir mehr und mehr Treibhausgase ausstoßen, lösen wir möglicherweise heute Reaktionen aus, die wir in Zukunft dann nicht mehr stoppen können.“
Würde das Eis des Wilkes-Beckens schmelzen, dann würde dies einen Meeresspiegelanstieg von 300 bis 400 Zentimetern verursachen, wie die Forscher errechneten. „Der vollständige Meeresspiegelanstieg wäre letztlich bis zu 80 mal größer als der durch das anfängliche Abschmelzen des Eiskorkens“, sagt Levermann. Ein so erheblicher Meeresspiegelanstieg würde das Gesicht unseres Planeten verändern – er wäre mit großer Wahrscheinlichkeit ein erhebliches Risiko für Küstenstädte von Dublin bis Mumbai, von Tokio bis New York. (Nature Climate Change, 2014; doi: 10.1038/NCLIMATE2226)
(Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), 05.05.2014 – NPO)