Wie entstand der Neandertaler? Die Entwicklung des Urmenschen mit den charakteristischen Gesichtszügen war bislang umstritten. Wissenschaftler aus Spanien haben die Geschichte des entfernten Verwandten des modernen Menschen genauer erforscht und fügen nun wichtige Puzzleteile in das Bild. Möglich sind ihre neuen Erkenntnisse durch eine wahre Goldgrube für Knochenfunde.
Augenwülste, ein dominanter Kiefer, flache Stirn: Anhand bestimmter Merkmale ordnen Anthropologen Funde dem Neandertaler zu. Doch die charakteristischen Eigenschaften des prominenten Urmenschen entstanden nicht über Nacht – er hat sich aus früheren Menschenformen entwickelt. Aber wie lief diese „Neandertalisierung“ ab?
Neues Licht auf diese Frage werfen nun Untersuchungsergebnisse von Funden aus der sogenannten „Knochengrube“ – der Sima de los Huesos in Nordspanien. Die archaischen Menschen, die hier vor etwa 430.000 Jahren lebten, besaßen demnach bereits Neandertaler typische Merkmale aber auch noch Eigenschaften früherer Menschenformen. Dies legt den Forschern zufolge nahe, dass die Entwicklung zum klassischen Neandertaler nicht kontinuierlich ablief, sondern in Phasen.
Jahrtausende getrennte Evolution
Der moderne Mensch und der Neandertaler sind nahe Verwandte: Ihre gemeinsamen Vorfahren haben sich einst in Afrika entwickelt und sich dann über ihren Heimatkontinent hinaus ausgebreitet. In Europa entwickelten sie sich zum Neandertaler weiter – in Afrika zum modernen Menschen. Vor etwa 70.000 Jahren wanderten die Vorfahren des modernen Menschen dann in Europa ein und verdrängten den Neandertaler.
Er verschwand allerdings nicht spurlos: Genetische Studien haben gezeigt, dass der moderne Mensch ein wenig Neandertaler-Erbgut in sich trägt. Die beiden Menschenformen haben sich demnach bei ihrem Aufeinandertreffen noch vereinzelt vermischt. Vermutlich war die Kombination allerdings nicht mehr sehr fruchtbar, denn die Jahrhundertausende der getrennten Evolution hatten sie doch sehr verschieden gemacht.
Knochengrube: Goldgrube für die Anthropologie
Das Ausmaß der Unterschiede, die sich in dem evolutionär betrachtet kurzen Zeitraum zwischen beiden Menschenformen entwickelt hatten, ist Anthropologen zufolge erstaunlich. „Seit Jahrzehnten gibt es eine Diskussion über die Prozesse, die zur Entstehung der Neandertaler geführt haben“, sagt Ignacio Martínez, einer der beteiligten Forscher von der University of Alcalá. „Ein wichtiger Diskussionspunkt war dabei immer, ob die Neandertalisierung von Anfang an alle Teile des Schädels umfasste, oder ob es unterschiedliche Phasen gab, in denen sich nur bestimmte Teile entwickelten“. Genau auf diese Frage geben die aktuellen Untersuchungsergebnisse nun offenbar eine Antwort.
Die „Knochengrube“ hat sich in den letzten Jahren als eine wahre Goldgrube für die Anthropologie erwiesen: An keinem anderen Fundort der Welt wurden so viele Überreste archaischer Menschen entdeckt wie hier. Die Funde aus der Sima de los Huesos umfassen Schädelknochen von 17 Individuen, die den Anthropologen zufolge alle der gleichen Population angehörten. Datierungen ergaben ein Alter von etwa 430.000 Jahren. Somit fallen sie in die Frühzeit der Entwicklungsphase, die zum Neandertaler führte.
Typischer Kauapparat: Zähne als dritte Hand
Die Untersuchungen der teils sehr gut erhaltenen Schädel ergaben: Gesicht und Zähne besaßen bereits Neandertaler typische Merkmale, doch andere Teile, vor allem die Hirnschale, wiesen noch Züge früherer Menschenformen auf. Viele der Neandertaler-artigen Eigenschaften standen im Zusammenhang mit dem Kauapparat, resümieren die Forscher.
Diese Ergebnisse belegen also die stufenweise Entwicklung zum klassischen Neandertaler. Demnach hat sich erst der Kauapparat entwickelt und dann der Rest. „Es scheint als ob diese Veränderungen etwas mit dem intensiven Gebrauch der Vorderzähne zu tun hatten“, sagt Studienleiter Juan-Luis Arsuaga von der Complutense Universität von Madrid. Ihm zufolge könnte das damit zu tun gehabt haben, dass die Menschen von Sima ihre Zähne wie eine dritte Hand benutzt haben.
(Science, 2014; doi: 10.1126/science.1253958)
(Arsuaga et al., Science, 20.06.2014 – MVI)