Sie passen in keine Kategorie: Seltsame pilzförmige Tiere aus der Tiefsee stellen Biologen vor ein Rätsel. Denn die nur wenige Millimeter großen Wesen lassen sich keiner bekannten Tiergruppe zuordnen. Dafür aber zeigen sie verblüffende Ähnlichkeit zu Fossilien von Ur-Mehrzellern, die schon vor mehr als 500 Millionen Jahren ausstarben. Ob die Tiefsee-Wesen mit diesen verwandt sind, bleibt aber unklar, wie Forscher im Fachmagazin „PLoS ONE“ berichten.
Fast 18 Jahre lang schlummerten die Rätseltiere in einem Behälter mit flüssigem Formalin – zusammen mit unzähligen anderen Organismen, die dem Sammelschlitten des Forschungsschiffs Franklin ins Netz gegangen waren. 1886 hatten Forscher damit Proben des Meeresbodens am australischen Kontinentalhang in 400 und 1.000 Metern Tiefe genommen. Weil nicht alle Proben sofort bestimmt werden konnten, wurden sie nur grob vorsortiert, konserviert und am Museum Victoria in Melbourne gelagert.
Erst nach und nach arbeiteten sich Wissenschaftler, darunter auch Jean Just von Naturgeschichtlichen Museum und der Universität von Kopenhagen, durch die Proben. Dabei stieß sie auf seltsame pilzähnliche Lebewesen, die zu keiner bekannten Art zu gehören schienen.
Stiel, Scheibe und nicht viel mehr
Nähere Untersuchungen enthüllten, dass es sich um mehrzellige Tiere handelt, die aus einem zylindrischen Stiel und einer darauf sitzenden rundlichen Scheibe bestehen. Am Ende des Stiels befindet sich in einer eingesenkten Spalte ein Mund, dieser mündet innen in eine Röhre, die sich in der Scheibe verzweigt, wie die Forscher berichten. Offenbar handelt es sich dabei um ein einfaches Verdauungssystem. Zwischen der inneren und äußeren Zellwand des Körpers liegt eine Sicht aus gelartigem Material.
„Von ihrem Körperbau ausgehend scheinen diese beiden Arten nicht schwimmen zu können, die Scheibe erscheint eher starr“, berichten Just und ihre Kollegen. Weil aber der Mund an der Basis des Stiels sitzt, scheinen die Tiere auch nicht am Boden festsitzend zu leben. Wie diese Wesen sich bewegten und was sie fraßen, bleibt vorerst ein Rätsel.
Kein Platz im Stammbaum
Ähnlich rätselhaft ist ihre stammesgeschichtliche Einordnung: Noch relativ klar scheint, dass es sich bei den insgesamt 18 gefundenen Exemplaren um zwei verschiedene Arten einer gemeinsamen neuen Gattung handelt. Die Forscher tauften sie daher Dendrogramma enigmatica und Dendrogramma discoides. Doch zu welcher Großgruppe des Tierreichs diese Gattung gehört, ist völlig unklar. Die pilzähnliche Form und fehlende Bilateralsymmetrie sprechen nach Ansicht der Forscher dafür, dass es sich um primitive Mehrzeller handelt. Es gibt zudem Ähnlichkeiten mit Nesseltieren und Rippenquallen. „Aber zurzeit gibt es keine Merkmale, die sie eindeutig einer dieser beiden Gruppen oder ihrem verwandtschaftlichen Umfeld zuordnen“, konstatieren die Wissenschaftler.
Bei frisch gesammelten Organismen wäre in einem solchen Fall eine DNA-Analyse hilfreich, denn sie verrät viel über die verwandtschaftliche Einordnung und auch die Biologie eines Lebewesens. Bei diesen Exemplaren geht dies aber nicht mehr: Die Lagerung in Formalin und später Ethanol haben die biochemischen Strukturen der Tiere so verändert, dass keine molekularen Analysen mehr möglich sind, wie Just und ihre Kollegen erklären.
Ähnlichkeit mit Ur-Mehrzellern
Und noch etwas war auffallend: Die Dendrogramma-Wesen gleichen auch verblüffend stark einigen Fossilien aus dem Präkambrium, die ebenfalls flache, rundlich gelappte Körper mit sich verzweigenden Röhren darin besaßen. Diese knapp 600 Millionen Jahre alten Urtiere galten bisher eher als riesenhafte Einzeller oder zumindest nur primitive Vorformen der echten Mehrzeller. Sollten sich die Parallelen zu Dendrogramma aber bestätigen, dann müssten möglicherweise auch sie künftig als echte Mehrzeller eingeordnet werden.
Trotz dieser Spekulationen: Worum es sich bei Dendrogramma handelt und wo sie im Baum des Lebens stehen, bleibt vorerst rätselhaft. Angesichts der eher spärlichen Körpermerkmale der rätselhaften Tiefseebewohner ist eine eindeutige Einordnung schlicht nicht möglich, wie auch Just und ihre Kollegen einräumen. Sie setzten ihre Hoffnung nun auf neue Proben aus der Tiefsee, die vielleicht noch lebende oder zumindest frische, nicht konservierte Exemplare dieser seltsamen Wesen liefern. (PLoS ONE, 2014; doi: 10.1371/journal.pone.0102976)
(PLOS, 04.09.2014 – NPO)