Fliegerische Extremtour: Ein nordamerikanischer Singvogel bringt eine erstaunliche Flugleistung zustande. Statt über Land bis nach Südamerika zu fliegen, wählt er eine Route rund 2.500 Kilometer weit über den Ozean. Die Grasmücken-Verwandte hat damit eine der ungewöhnlichsten Routen unter den Zugvögeln, wie Forscher im Fachmagazin „Biology Letters“ berichten. Warum der Singvogel diese gefährliche Strecke wählt und noch dazu im Nonstopflug, ist bisher rätselhaft.
Normalerweise meiden Zugvögel große Wasserflächen: Wenn es beispielsweise von Europa nach Afrika geht, fliegen die meisten Vögel nicht direkt über das Mittelmeer, sondern nehmen den Umweg über Gibraltar oder den Balkan. Für die in Nordamerika heimische Grasmückenart Setophaga striata läge es daher nahe, auf ihrem Weg nach Südamerika ins Winterquartier den Landweg über Mittelamerika zu nehmen.
Überraschende Begegnungen
Doch in diesen Regionen wurden die Vögel im Herbst nie gesichtet, stattdessen aber häufig über dem Ozean: „Man hat immer wieder Vögel beobachtet, die auf Schiffen im Atlantik landeten“, berichtet Studienleiter Ryan Norris von der University of Guelph in Ontario. „Radarstudien vor der Spitze von Nova Scotia zeigten zudem diese Vögel, wie sie direkt nach Süden flogen.“ Doch das würde bedeuten, dass die Vögel eine direkte Route über den Atlantik wählen – streckenweise parallel zur Küste, aber immer über Wasser.
Um zu überprüfen, ob diese ungewöhnliche Route tatsächlich stimmen konnte, rüsteten Norris und seine Kollegen 40 dieser Grasmücken vor ihren Flug ins Winterquartier mit winzigen GPS-Sensoren aus. Die nur 0,5 Gramm wiegenden Päckchen wurden den Vögeln mit einem Spezialgeschirr auf den Rücken geschnallt. Sie zeichneten die Bewegungen der Vögel auf und mussten dann im folgenden Frühjahr wieder geborgen werden – keine einfache Aufgabe. Aber immerhin fünf der Vögel konnten die Forscher wiederfinden und so deren Reisedaten auswerten.
Nonstop über den Ozean
Das Ergebnis war erstaunlich: „Als wir die Geolocatoren auslasen, sahen wir, dass die Reise der Grasmücken tatsächlich direkt über den Atlantik führte“, berichtet William DeLuca von der University of Massachusetts in Amherst. „Die zurückgelegten Distanzen lagen dabei zwischen 2.270 und 2.770 Kilometern.“ Die Route über eine so lange Meeresstrecke ist für einen Singvogel extrem ungewöhnlich und für einen Waldbewohner wie diese Grasmücke erst recht, wie die Forscher betonen.
Denn zu einer Wasserlandung sind die kleinen Sänger nicht in der Lage. Machen sie unterwegs schlapp, haben sie keine Chance und ertrinken. Für diese enorme Strecke benötigten die winzigen Vögel zudem nur zwei bis drei Tage, die sie nonstop fliegend zurücklegten. Erst auf den Großen Antillen, auf Kuba und an der Küste von Puerto Rico machten sie das erste Mal Rast, um dann das kurze Reststück bis nach Venezuela und Kolumbien zurückzulegen, wie die Forscher berichten.
Fettpolster als Reiseproviant
„Dies ist damit eine der längsten Nonstop-Überwasserflüge, die je für einen Singvogel dokumentiert worden sind“, sagt DeLuca. „Unsere Daten bestätigen nun endlich, dass dieser Vogel eine der außergewöhnlichsten Zugleistungen auf diesem Planeten zustande bringt.“
Um diese gewaltige Kraftanstrengung zu bewältigen, fressen sich die Grasmücken im Spätsommer dicke Fettpolster an. „Sie essen dafür so viel wie möglich und verdoppeln ihre Fettreserven in vielen Fällen sogar“, erklärt Norris. „Dadurch können sie so lange fliegen, ohne fressen oder trinken zu müssen.“
Ursache für Gewalttour rätselhaft
Der Preis ist aber hoch: Die Biologen schätzen, dass nur rund die Hälfte der Vögel im Frühjahr von dieser Gewalttour wiederkehrt. „Es ist eine flieg oder stirb-Reise“, so Norris. Warum diese Grasmücken diesen riskanten Nonstop-Flug nach Süden auf sich nehmen statt die sichereren Überland-Route zu wählen, bleibt unklar.
Seltsam auch: Auf ihrer Rückreise nach Nordamerika nutzen die Singvögel eine ganz normale Route: Sie fliegen über die karibischen Inseln und Florida und dann über Land entlang der Ostküste bis zu ihren Brutgebieten. Dabei lassen sie sich mehr als zwei Wochen Zeit. Warum sie es nur auf dem Hinweg so eilig haben, erscheint daher umso rätselhafter. Auch die Forscher können hier bisher nur Vermutungen anstellen. (Biology Letters, 2015; doi: 10.1098/rsbl.2014.1045
(University of Guelph, 01.04.2015 – NPO)