Archäologie

Rätsel um Rachitis-Fall aus der Steinzeit

Junge Frau litt unter gravierendem Vitamin D-Mangel trotz eigentlich gesunden Lebensstils

Das Skelett der rachitischen Steinzeit-Frau in einer Originalaufnahme von 1912. © The Hunterian

Rätselhafte Mangel-Krankheit: Forscher haben auf den Hebriden den ältesten Rachitis-Fall Englands entdeckt. Bereits in der Jungsteinzeit vor rund 5.000 Jahren litt diese Frau offenbar an den typischen, durch Vitamin D-Mangel verursachten Knochenverformungen, wie ihr Skelett belegt. Das Seltsame daran: Der Lebensstil der frühen Bauern in dieser Gegend machte es eigentlich fast unmöglich, diese Mangelkrankheit zu bekommen.

Rachitis ist eine klassische Mangelkrankheit: Bekommen Kinder im Wachstum nicht genügend Vitamin D und Sonnenlicht, dann bleiben ihre Knochen anormal weich. Als Folge verbiegen sich die Gliedmaßen und der Brustkorb wird eingezogen – es entsteht die typische Trichterbrust. Bekannt ist diese Krankheit vor allem aus Industrie-und Bergbauzentren im England des 19. Jahrhunderts, aber auch in Deutschland kam Rachitis in Städten vor. Als Gegenmittel wurde der ungeliebte, aber Vitamin-D-reiche Lebertran verabreicht.

Hebriden-Bewohnerin mit Rachitis

Für Rätselraten sorgt nun ein um mehrere Jahrtausende älterer Rachitis-Fall. Es handelt sich um das Skelett einer etwa 25- bis 30-jährigen Frau, die vor 5.340 bis 5.090 Jahren auf der schottischen Hebrideninsel Tiree lebte. Ihre bereits 1912 geborgenen Knochen weisen eine ganze Reihe typischer Rachitis-Merkmale auf, darunter eine Trichterbrust und gebogenen und verkürzte Arme und Beine, wie Ian Armit von der University of Bradford berichtet.

„Bisher stammte der älteste Rachitis-Fall Englands aus der Zeit der Römer, doch diese Entdeckung ist noch einmal 3.000 Jahre älter“, sagt Armit. Die rachitische Frau von den Hebriden ist damit einer der ältesten eindeutig diagnostizierten Fälle weltweit. Denn es gibt zwar noch andere jungsteinzeitliche Skelette mit Verdacht auf Rachitis, keiner sei aber so eindeutig wie dieser. „Und er ist definitiv sehr ungewöhnlich“, so Armit.

Zeichnung des gut 5.000 Jahre alten Skeletts © The Hunterian

Mangel trotz Landluft und Sonne

Das Seltsame daran: „Ein Vitamin D-Mangel dürfte eigentlich bei einem Menschen mit dem damals üblichen ländliche Lebensstil kein Problem sein“, so Armit. Denn wie anderswo auch hielten sich die frühen Bauern auf den Hebriden viel draußen auf, um ihre Felder zu bestellen und Nahrung zu sammeln.

Neue Isotopen-Analysen der Zähne zeigen, dass diese junge Frau von der Insel stammte. Denn sie hat besonders viel Strontium eingelagert, das durch den Seewind und die Meeresgischt auf das Getreide und ins Wasser geweht wurde. Theoretisch hätte sie also reichlich Gelegenheit gehabt haben müssen, ihren Vitamin D-Haushalt über das Sonnenlicht zu decken. Doch das geschah offensichtlich nicht.

Schweres Schicksal

Warum aber entwickelte diese Frau trotz eines eigentlich damals gesunden Lebensstils Rachitis? Die Forscher vermuten, dass ihr schon von Kindheit an besondere Beschränkungen auferlegt worden waren. „Sie trug entweder ein Gewand, dass sie komplett bedeckte oder hielt sich ausschließlich drinnen auf“, sagt Armit. „Ob dies aber deshalb geschah, weil sie eine religiöse Rolle innehatte, unter einer Krankheit litt oder eine Haussklavin war, werden wir wohl nie erfahren.“

Im Gegensatz zu den sonst in der Jungsteinzeit üblichen Sitten wurde die Frau auch nicht in einer Grabkammer mit allen gängigen Ritualen und Beigaben bestattet. Stattdessen lag sie in einem einfachen, kahlen Grab. „Mangelernährung oder Krankheit als Kind, zu wenig Sonnenlicht als Jugendliche, entstellende Behinderung als Erwachsene und schließlich ein Begräbnis ohne die üblichen Riten – das alles zeichnet ein trauriges Bild der Lebensgeschichte dieser Frau“, sagt Janet Montgomery von der Durham University.

Opfer kultureller Beschränkungen?

Merkwürdig auch: Der Ozean rund um die Insel bot eigentlich genügend Nahrung, um auch ohne Sonne einen Vitamin D-Mangel zu verhindern. Die Bewohner von Tiree hätten an der Küste genügend Fisch und Meeresfrüchte gefunden, um darüber ihren gesamten Bedarf zu decken. Doch wie die Stickstoff- und Kohlenstoff-Isotope in den Zähne der Steinzeitfrau zeigen, aß sie keinerlei Fisch.

Wie die Forscher erklären, ist dies jedoch für die Steinzeitbauern der Küstengebiete keineswegs ungewöhnlich. Häufig entwickelten sie eine starke kulturelle Aversion gegen Nahrung aus dem Ozean. „Es ist geradezu tragisch, dass die einfache Ergänzung ihres Speiseplans mit Fisch der Frau ihr Leiden hätte ersparen können“, sagt Montgomery. „Doch die kulturellen Beschränkungen verhinderten dies.“

Ob die Rachitis-Erkrankung der Frau ein Einzelfall war oder ob noch andere Mitglieder dieser Gemeinschaft ähnliches erlitten, ist bisher unbekannt. Denn andere Skelette aus dieser Zeit und Gegend gibt es nicht. Generell sind Gräber aus der Jungsteinzeit auf den Hebriden sehr selten, wie die Forscher erklären. „Für uns bleiben daher noch viele Fragen unbeantwortet“, so Armit. (Proceedings of the Prehistoric Society, 2015; doi: 10.1017/ppr.2015.7)

(University of Bradford, 14.09.2015 – NPO)

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