Überraschende Abstammung: Ein vor rund 2.500 Jahren in Karthago gestorbener Phönizier erweist sich als Sprössling europäischer Ahnen – statt als Nachfahre nahöstlicher Kolonisten, wie für die Karthager bisher angenommen. Seine mitochondriale DNA trägt ein heute extrem seltenes Genmuster, das er von Nachfahren steinzeitlicher Jäger und Sammler auf der Iberischen Halbinsel geerbt haben könnte, wie Forscher im Fachmagazin „PLOS ONE“ berichten.
Die Phönizier waren eine ebenso prägende wie rätselhafte Kultur des Mittelmeerraums. Denn nahezu alles Wissen über Herkunft und Kultur dieses Volks stammt aus den Aufzeichnungen der Griechen, Römer und Ägypter. Phönizische Schriften hat man dagegen bisher nicht gefunden, obwohl sie ein eigenes Alphabet besaßen und ganze Bücher verfasst haben sollen.
Entdeckung in den Ruinen von Karthago
Das im ersten und zweiten Jahrtausend vor Christus dominierende Händler- und Seefahrervolk siedelte vor allem in der Levante, gründete aber auch Kolonien in anderen Küstengebieten des Mittelmeeres. Die bekannteste von ihnen war die Stadt Karthago im heutigen Tunesien, die sich zu einer der mächtigsten Städte des Mittelmeerraums entwickelte, bevor sie 146 vor Christus im dritten punischen Krieg von den Römern besiegt und zerstört wurde.
1994 machten Archäologen bei Ausgrabungen in den Überresten von Karthago eine sensationelle Entdeckung: Ein vier Meter tiefer Schacht führte zu einem unterirdischen Grab, in dem zwei Sarkophage standen. Einer davon war leer, der zweite jedoch enthielt das Skelett eines jungen Mannes, der im sechsten Jahrhundert vor Christus dort mitsamt Grabbeigaben und Amuletten begraben worden war.
Erste Genanalyse eines Phöniziers
Untersuchungen der Beigaben und des Schädels sprechen dafür, dass es sich um einen Phönizier handelt. Seine Überreste boten damit die einmalige Chance, mehr über die Herkunft und Abstammung der phönizischen Karthager zu erfahren. Elizabeth Matisoo-Smith von der University of Otago in Neuseeland und ihre Kollegen nutzten daher die Chance, das Erbgut des Toten aus den Knochen zu isolieren und seine mitochondriale DNA zu analysieren.
„Wir präsentieren hier die erste DNA-Analyse phönizischer Überreste und die erste komplette Sequenzierung des mitochondrialen Genoms eines Phöniziers“, sagen die Forscher. Weil die mitochondriale DNA nur von den Müttern an ihre Kinder vererbt wird, lässt sich mit ihr die mütterliche Abstammung eines Menschen rekonstruieren. Die Forscher verglichen die DNA des Phöniziers dafür mit 47 Genproben heute lebender Libanesen, die als Nachfahren der Gründer von Karthago gelten.
Keine Ähnlichkeit mit Libanesen
Die Genvergleiche ergaben Überraschendes: Entgegen den Erwartungen gab es nur wenig genetische Übereinstimmungen zwischen dem Phönizier und den modernen Libanesen. Stattdessen gehörte der vor 2.500 Jahren gestorbene Karthager einer heute extrem seltenen Haplogruppe an, wie die Forscher berichten.
„U5b2c1 ist eine der ältesten Haplogruppen in Europa, sie stammt von urzeitlichen Jägern und Sammlern“, erklärt Matisoo-Smith. „In den modernen europäischen Populationen ist diese Haplogruppe nur noch mit weniger als einem Prozent vertreten“, so die Forscherin. So wurde dieser Gentyp bisher nur bei einer Handvoll von Menschen aus Großbritannien, Deutschland und von der Iberischen Halbinsel nachgewiesen.
Vorfahrinnen von der Iberischen Halbinsel
Interessanterweise zeigt das Erbgut des Phöniziers aus Karthago die größte Ähnlichkeit zu einem heute lebenden Portugiesen und zu zwei Steinzeitmenschen, die einst im Nordwesten Spaniens lebten. Nach Ansicht der Forscher deutet dies darauf hin, dass die Vorfahren des jungen Phöniziers einst aus Europa stammten – und möglicherweise von der Iberischen Halbinsel.
„Obwohl angenommen wird, dass Karthago von Kolonisten aus Tyros in der Levante gegründet wurde, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die mütterlichen Vorfahren unseres jungen Phöniziers von dort stammten“, sagen die Forscher. Stattdessen könnten sie aus dem Süden Spaniens nach Karthago gekommen sein.
Schmelztiegel Karthago
„Während eine Welle der Bauern aus dem Nahen Osten die Jäger und Sammler Europas verdrängten, könnten einige ihrer Linien im Süden der Iberischen Halbinsel und auf den vorgelagerten Inseln überdauert haben“, mutmaßt Matisoo-Smith. “ Von dort gelangten sie dann durch die phönizischen und punischen Handelsnetzwerke in den Schmelztiegel Karthagos in Nordafrika.“
Die Forscher hoffen nun, mit Hilfe weiterer Erbgut-Analysen des Mannes von Byrsa mehr über die Herkunft der Bewohner Karthagos und der Phönizier allgemein zu erfahren. „Unsere Forschung wird uns helfen, die Herkunft und den Einfluss der Phönizier und ihrer Kultur im Mittelmeerraum und darüber hinaus besser zu verstehen“, sagen sie. (PLOS ONE, 2016; doi: 10.1371/journal.pone.0155046)
(University of Otago/ PLOS ONE, 31.05.2016 – NPO)