Rätselhafte Diskrepanz: Forscher haben gleich ein doppeltes Rätsel um prähistorische Bisons gelöst. Genanalysen enthüllen, dass die europäischen Wisente schon Jahrtausende länger existieren als gedacht. Dies wiederum erklärt, warum in prähistorischen Höhlenmalereien Bisons mal mit langen und mal mit kurzen Hörnern dargestellt sind. Überraschend auch: Wisente entstanden durch eine Kreuzung von Steppenbisons mit Auerochsen, wie die Wissenschaftler im Fachmagazin „Natur Communications“ berichten.
Neben Wildpferden und Hirschen gehören vor allem Bisons zu den typischen Motiven der prähistorischen Höhlenmalerei. Rätselhaft jedoch: In den Feldbildern tauchen zwei deutlich verschiedene Bisondarstellungen auf. Eine zeigt ein Tier mit langen Hörnern, einem mächtigen Vorderkörper und einem vorne deutlich höheren Rücken. Die andere Variante zeigt einen Bison mit kurzen Hörnern, einem schlankeren Körper und einem weniger stark ausgeprägten „Buckel“.
Woher kamen die Kurzhorn-Bisons?
Das Seltsame daran: Gängiger Lehrmeinung nach gab es bis zum Ende der letzten Eiszeit nur eine einzige Bisonart in Europa: den Steppenbison (Bison priscus). Er gilt als Vorfahre der amerikanischen Bisons und besaß lange Hörner. Der kurzhornige Europäische Wisent (Bison bonasus) tauchte dagegen erst vor knapp 12.000 Jahren auf – so dachte man bisher. Wie konnte es daher sein, dass Höhlenbilder unserer Vorfahren schon vor gut 17.000 Jahren einen kurzhornigen Bison darstellten?
Julien Soubrier von der University of Adelaide und seine Kollegen beschlossen, dieser Frage nachzugehen. Dafür unterzogen sie 64 fossile Bisonknochen aus dem Kaukasus, dem Ural, der Nordsee, Frankreich und Italien einer genetischen Analyse. Sie untersuchten bei den zwischen 50.000 und 14.000 Jahre alten Knochen die mitochondriale DNA – den Teil des Erbguts, der nur über die mütterliche Linie weitergegeben wird.
„Clade X“: eine unbekannte Art
Das überraschende Ergebnis: Bei 38 Knochenproben entsprach die mitochondriale DNA weder der des Steppenbisons, noch der des Europäischen Wisents. Stattdessen schien es sich um eine zuvor unbekannte genetische Linie zu handeln. „Die genetischen Signale von diesen Bisonknochen waren sehr seltsam“, berichtet Seniorautor Alan Cooper von der University of Adelaide.
Datierungen der Knochen enthüllten, dass diese unbekannte Bison-Art zu bestimmten Zeiten im prähistorischen Europa sogar häufiger vorkam als der Steppenbison. Offenbar dominierte der Steppenbison immer dann, wenn das Klima etwas milder war, der Clade X-Bison breitete sich aus, wenn kalte Sommer und Tundra-artige Landschaften überwogen.
Kreuzung mit Auerochsen
Worum aber handelte es sich bei den rätselhaften Clade X-Bisons? Um das herauszufinden, führten die Wissenschaftler weitere genetische Untersuchungen durch, bei denen sie die DNA der Knochen mit dem Europäischen Wisent, dem Steppenbison und mit dem Auerochsen (Bos primigenius) verglichen – dem einzigen damals vorkommenden Wildrind.
Diese Analysen lieferten die nächste Überraschung: Sowohl das Clade X-Erbgut als auch das der Wisente zeigte Ähnlichkeiten mit der DNA der Auerochsen. „Sowohl die Wisente als auch Clade X sind enger mit den Rindern verwandt als mit dem Bison“, berichten Soubrier und seine Kollegen. Beide tragen bis zu zehn Prozent Auerochsen-Gene in ihrem Erbgut. „Das deutet daraufhin, dass sie auf eine Kreuzung von Steppenbison und Auerochsen zurückgehen.“
Die Forscher gehen davon aus, dass es vor rund 120.000 Jahren zu Paarungen von männlichen Bisons und weiblichen Auerochsen gekommen sein muss. Aus dieser Hybridisierung entstanden die Vorfahren der heutigen Europäischen Wisente, zu denen auch die Bisons vom Typ Clade X gehört haben könnten.
Zwei Rätsel auf einmal gelöst
Mit diesen Ergebnissen haben die Forscher gleich zwei Rätsel gelöst: Ihre Gendaten erklären zum einen, wie und wann die Europäischen Wisente entstanden. Diese sind demnach Nachfahren der urzeitlichen Kreuzung von Auerochs und Steppenbison und waren entgegen bisherigen Annahme schon lange vor dem Ende der letzten Eiszeit in Europa präsent.
Zum anderen aber erklärt die Existenz von Clade X und den frühen Wisenten, warum die Höhlenmalereien zwei verschiedene Bisonformen zeigen: Unsere Vorfahren ließen nicht ihre Fantasie walten, sondern malten schlicht die Bisonart, die sie zu den verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten vor sich sahen.
Der langhornige Steppenbison taucht daher besonders häufig in Felsbildern aus der Zeit vor 22.000 bis 18.000 Jahren auf, der kurzhornige Wisenttyp dagegen dominierte die Bilder in der Zeit zwischen 17.000 und 12.00 Jahren. (Nature Communications, 2016; doi: 10.1038/ncomms13158)
(Nature, 19.10.2016 – NPO)