Kannten die Vormenschen doch noch keine Steinwerkzeuge? Eine neue Studie weckt erhebliche Zweifel an den vermeintlich frühesten Werkzeugspuren unserer Vorfahren. Denn die gut drei Millionen Jahre alten Knochenkerben könnten auch von Krokodilsbissen stammen, wie die Forscher belegen. Dafür spreche sowohl die Form der Bisspuren an den Knochen als auch der Fund von Krokodilsknochen in unmittelbarer Nähe der Vormenschenrelikte.
Wann begannen unsere Vorfahren erstmals, Werkzeuge zu nutzen? Diese Frage scheint heute strittiger denn je. Zwar galt der vor rund 2,5 Millionen Jahren lebende Homo habilis lange als der erste Werkzeugmacher unter den Hominiden. Doch inzwischen haben Forscher sowohl am Turkanasee in Kenia als auch in Dikika in Äthiopien mehr als drei Millionen Jahre alte Schnittspuren an Knochen entdeckt, die auf eine Werkzeugnutzung schon bei Vormenschen wie dem Australopithecus hinzudeuten schienen.
Doch wie eindeutig sind diese vermeintlich so eindeutigen Werkzeugspuren? Genau darüber streiten Anthropologen schon seit einiger Zeit. Bereits 2010 wiesen Forscher in Experimenten nach, dass auch ein Herumtrampeln auf alten Knochen zu Schrammen führen kann, die den „Schnittspuren“ verblüffend ähneln. 2016 zeigten Beobachtungen in Brasilien, dass Kapuzineraffen beim Herumhämmern auf Steinen Pseudo-Faustkeile produzieren.
V-förmige Kerben in neuem Licht
Trotzdem gelten v-förmige Einkerbungen auf Knochen und punktförmige „Hämmerspuren“ bisher noch immer als eindeutige Signatur für menschliche Bearbeitung, wie Yonatan Sahle von der Universität Tübingen und seine Kollegen berichten. Nun jedoch haben sie ein weiteres Indiz dafür entdeckt, dass solche Spuren keineswegs immer vom Menschen stammen müssen.
Für ihre Studie hatten die Forscher die vermeintlichen Schnittspuren an Knochen aus mehreren Fossilfundstätte in Äthiopien noch einmal analysiert. Dabei prüften sie durch Vergleiche, ob nicht auch Bisse von Krokodilen solche Spuren hätten erzeugen können. Diese Reptilien kamen im meist flussnahen Lebensraum der Vormenschen durchaus häufig vor, wie Sahle und seine Kollegen erklären.
Krokodil statt Mensch
Das überraschende Ergebnis: Während viele Fleischfresser u-förmige Kerben in Knochen hinterlassen, produzieren Krokodilsbisse v-förmige Kerben – und damit genau die Spuren, die bisher als eindeutig menschengemacht galten. Die genauere Analyse von Spuren an den fossilen Knochen aus Awash ergaben zudem, dass die Verteilung dieser Kerben eher zu Bissen als zu einem Entbeinen im Rahmen einer Schlachtung durch Menschen passt, wie die Forscher berichten.
Hinzu kommt: In den beiden ältesten Fossilschichten – 4,2 und 3,4 Millionen Jahre alt – wurden neben den menschlichen Knochen auch Überreste von Krokodilen gefunden. „Betrachtet man die Knochen isoliert, dann könnten einige dieser Modifikationen als Beleg für Schnitte und Schläge mit Steinwerkzeugen interpretiert werden“, so Sahle und seine Kollegen. „Aber der Kontext dieser Fossilien lässt uns schließen, dass es sich hier stattdessen um Krokodilsspuren handelt.“
Muss die Vorgeschichte umgeschrieben werden?
Liegen Sahle und seine Kollegen richtig, dann könnte dies den Blick auf die Menschheitsgeschichte entscheidend verändern. Denn dann begannen möglicherweise doch erst die ersten Angehörigen der Gattung Homo mit der Werkzeugnutzung. Die vor gut drei Millionen Jahren lebenden Vormenschen der Gattung Australopithecus dagegen beherrschten diese wichtige Kulturtechnik vielleicht noch nicht. Auch an anderen aufsehenerregenden Funden wie den vermeintlichen Werkzeugspuren an 130.000 Jahre alten Mastodonknochen in Alaska wecken die neuen Erkenntnisse nun Zweifel.
„Unsere Ergebnisse wecken Zweifel an den Belegen für die frühesten Schlachtungen von Tieren“, sagen die Wissenschaftler. Es sei daher dringend erforderlich, die bisherigen Fossilfunde noch einmal kritisch zu überprüfen. Nur so lasse sich herausfinden, woher die Knochenspuren im jeweiligen Fall tatsächlich stammen. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2017; doi: 10.1073/pnas.1716317114)
(Proceedings of the National Academy of Sciences, 07.11.2017 – NPO)