Fatale Kaskade: Der Eisschild Grönlands könnte instabiler sein als gedacht. Denn selbst weit in seinem Inneren haben Forscher nun tiefe Risse entdeckt. Ihre Ursache ist eine fatale Kettenreaktion: Wenn sich ein Eistümpel entleert und große Mengen Schmelzwasser von der Oberfläche in die Tiefe stürzen, verursacht dies abrupte Spannungen im Eis. Diese lassen das Eis reißen und auch andere Schmelzwasserseen laufen aus – sogar noch Dutzende Kilometer entfernt, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature Communications“ berichten.
Mehr als drei Kilometer dick und 1,8 Millionen Kilometer groß: Das Grönlandeis ist nach der Antarktis das zweitgrößte Eisreservoir der Erde. Doch an diesem Eispanzer nagt der Klimawandel. Jedes Jahr verlieren die Grönlandgletscher genug Schmelzwasser für fünf Bodenseen und die Erwärmung gekoppelt mit einem weichen Untergrund lässt viele Küstengletscher immer schneller Richtung Meer gleiten.
Schmelzwasser auf dem Eis
Doch das ist nicht alles: Schon seit Jahren beobachten Forscher mit Sorge, dass sich auf der Oberfläche des Eisschilds immer mehr Schmelzwasserseen bilden. Tausende solcher Seen sind es inzwischen in jedem Sommer. Diese Eistümpel entleeren sich meist abrupt: Das Eis unter ihnen bricht auf und die Wassermassen ergießen sich in die Tiefe – oft bis an die Basis des Gletschers, wo sie subglaziale Seen und Ströme bilden. Sie verstärken den Abfluss der Gletscher zusätzlich.
Inzwischen bilden sich solche Schmelzwassertümpel vermehrt auch in hohen Lagen und weit im Inneren Grönlands. Bisher jedoch glaubte man, dass diese supraglazialen Seen auf die Gletscher weniger destabilisierend wirken. „Studien deuteten darauf hin, dass sich solche Seen weniger wahrscheinlich abrupt entleeren, weil die Eisoberfläche dort weniger Brüche aufweist“, erklären Poul Christoffersen von der University of Cambridge und seine Kollegen.
Ob dies stimmt und was passiert, wenn Schmelzwasserseen durch das Eis brechen, haben die Forscher nun anhand eines Modells und Beobachtungsdaten untersucht.
Risse selbst im Inneren
Das Ergebnis: Entgegen den Annahmen ist der grönländische Eispanzer selbst im Inneren von gewaltigen Rissen und Brüchen durchzogen. „Das ist ziemlich besorgniserregend“, sagt Christoffersen. „Wir haben klare Belege für solche Brüche selbst 1.800 Meter über dem Meeresspiegel und bis zu 135 Kilometer vom Eisrand entfernt gefunden. Das ist viel weiter im Inland als man zuvor jemals für möglich gehalten hätte.“
Doch wie können solche Risse mitten im Eisschild entstehen? Den Grund dafür enthüllte das physikalische Modell der Forscher: Es sind die Schmelzwasserseen. Wenn diese sich auf der Eisoberfläche bilden, passiert zunächst wenig. Doch sobald einer dieser Seen sein Wasser an die Basis des Eises entleert, verändert dies schlagartig die Kräfteverhältnisse im Eis. Es entstehen vermehrte Spannungen, die nun das Eis auch an anderen Stellen aufreißen lassen.
Fatale Kettenreaktion
Die Folge ist eine Kettenreaktion: „Seen, die sich an einer Stelle entleeren, erzeugen Risse, die anderswo noch mehr Seen zum Auslaufen bringen“, erklärt Koautorin Marion Bougamont von der University of Cambridge. Diese Kaskaden von auslaufenden Gletscherseen können bis in 80 Kilometer Entfernung wirken – und je mehr Schmelzwassertümpel es gibt, desto wahrscheinlicher und häufiger sind solche Kettenreaktionen.
In einem Fall beobachteten die Forscher eine Kaskade von 124 supraglazialen Seen, die sich innerhalb von nur fünf Tagen alle nacheinander entleerten. Die dabei an die Unterseite des Eises transportierten Wassermassen wirken wie eine Rutschbahn und können den Eisabfluss um bis zu 400 Prozent beschleunigen, wie die Modellrechnungen ergaben.
Bedrohung für Grönlands Eis
„Das wachsende Netzwerk von Schmelzwasserseen ist dadurch eine Bedrohung für die langfristige Stabilität des grönländischen Eisschilds“, warnt Christoffersen. „Denn durch diese Prozesse bringen die Seen Wasser und Wärme in das isolierte Innere des Eisschilds – und haben so einen potenziell großen Einfluss auf den Eisabfluss.“
Noch gelten große Teile des grönländischen Eisschilds als halbwegs intakt. Ein Abtauen des gesamten Grönlandeises noch in diesem Jahrhundert gilt daher als sehr unwahrscheinlich. Doch die überproportional starke Erwärmung der Arktis und Veränderungen im polaren Jetstream lassen inzwischen selbst lange als stabil geltende Gletscher immer schneller fließen. (Nature Communications, 2018; doi: 10.1038/s41467-018-03420-8)
(University of Cambridge, 15.03.2018 – NPO)