Kaum ein Urmensch hat es zu so viel Ruhm gebracht wie der Neandertaler. Dabei herrscht nach wie vor Streit darüber, wie eng die verwandtschaftlichen Beziehungen zum modernen Menschen nun tatsächlich sind. Neuere Untersuchungen haben aber zumindest das Rätsel gelöst, auf welchem Weg unsere gemeinsamen Vorfahren, die Hominiden, vom Mittelmeerraum über die Alpen nach Norden gekommen sind: Vor allem das Oberrheintal sowie das Thüringer Becken übernahmen vermutlich wichtige Korridorfunktionen für die Einwanderung aus dem Süden.
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„Europa wurde erstmals vor knapp einer Million Jahren von Menschen besiedelt“, erklärt Christine Hertler vom Institut für Evolution, Ökologie und Diversität der Universität Frankfurt am Main. „Geographisch liegen die ältesten, gegenwärtig bekannten Fundstellen am nördlichen Rand des Mittelmeers, in Spanien und Italien. Alle Hominiden-Funde in Gebieten nördlich der Alpen besitzen hingegen ein jüngeres Alter“, so Hertler. Das älteste Hominiden-Fossil Deutschlands ist rund eine halbe Million Jahren alt und stammt aus Mauer an der Elsenz, einem Nebenfluss des Neckars.
Frühphase der Neandertaler-Evolution
Dieser Heidelberger Unterkiefer besitzt Merkmale, die ihn noch recht typisch für den Menschen des Mittelpleistozäns, Homo erectus, erscheinen lassen. Trotzdem wird er bereits einer neuen Entwicklungsstufe zugerechnet, dem Homo heidelbergensis. Als frühester Nachweis menschlicher Besiedlung in Mitteleuropa fällt er damit in die Frühphase der Neandertaler-Evolution. Die nächst jüngeren Hominiden-Fundstellen mit einem Alter von etwa 400.000 Jahren liegen ebenfalls am Neckar, aber auch im nördlichen Harz-Vorland sowie im Thüringer Becken.
Dass sich die frühen Menschen hierhin nicht zufällig verlaufen hatten, zeigen jüngere Funde mit einem Alter von 250.000 Jahren aus Weimar-Ehringsdorf. „Das Thüringer Becken stellt damit nachweislich eine der Regionen Mitteleuropas dar, die von frühen Menschen bevorzugt besiedelt worden ist“, schätzt Hertler die Fossilienfunde ein. „Erleichtert wurden die Wanderungsbewegungen offensichtlich durch die geographische Lage, da die Region nach Südosten hin offen ist und somit eine Verbindung in die Weiten Osteuropas bestand“. Darüber hinaus bildeten vor allem das Oberrheintal und die Rhone einen weiteren Korridor für die mittelpleistozänen Menschen auf ihrem Weg vom Süden nach Mitteleuropa.
Mitteleuropa nur „Sommerresidenz“
Alle bisherigen Fossilien-Funde legen allerdings nahe, dass die Hominiden bis vor rund 100.000 Jahren ausschließlich zu Warmzeiten in Mitteleuropa gelebt haben. Denn die bekannten Fundstellen sind stets verbunden mit den Fossilien warmzeitlicher Tiere. „Es hat den Anschein, dass frühe Hominiden während der Kaltzeiten nicht im Europa nördlich der Alpen ausharrten“, zieht Hertler die Schlussfolgerungen. „Verschlechterten sich die Lebensbedingungen aufgrund von Klimaschwankungen, dann zogen sie sich wohl entlang der durch die Korridore vorgezeichneten Routen nach Süden zurück“.
Der erste Mensch hingegen, der auch unter klimatisch schwierigen Bedingungen in Mitteleuropa blieb, war der klassische Neandertaler. Er konnte anscheinend mit den sich vergleichsweise rasch wandelnden Umweltbedingungen zu Recht zu kommen. Dies betraf jedoch nicht nur die niedrigeren Temperaturen, sondern auch die Anpassungsfähigkeit seines Nahrungsverhaltens. Denn mit den eiszeitlichen Klimaschwankungen veränderte sich auch die Tier- und Pflanzenwelt Mitteleuropas.
Showdown an der Donau
Bei den jüngsten Fundstellen Deutschlands, an denen Neandertaler nachgewiesen sind, handelt es sich um Höhlen auf der Schwäbischen Alb. Viele dieser Höhlen sind berühmt für Elfenbein-Statuetten, zum Beispiel der Löwenkopf-Mann aus der Hohlenstein-Stadel-Höhle. Diese Artefakte stammen jedoch aus jüngeren Fundschichten als die Neandertaler. Sie wurden vermutlich von anatomisch modernen Menschen angefertigt. Die Höhlen sind also zunächst von Neandertalern und später von Homo sapiens genutzt worden. Damit gehört diese Region zu einer der wenigen, in der sich die Ablösung der Neandertaler von anatomisch modernen Menschen tatsächlich vor Ort untersuchen lässt.
HOPsea besucht Fundstätten
Den wichtigsten Heimstätten von Neandertalern und ihren Vorläufern im Europa nördlich der Alpen spürten in diesem Sommer die Teilnehmer einer internationalen Exkursion nach. Diese wurde vom europäisch-asiatischen Lehr- und Forschungsnetzwerk HOPsea (Human Origins Patrimony in Southeast Asia) veranstaltet, das sich die Förderung des paläontologischen Nachwuchses zum Ziel gesetzt hat. Die Teilnehmer kamen aus den Niederlanden, Frankreich und Deutschland, aber auch aus Indonesien und den Philippinen. Im Anschluss an eine bereits im vergangenen Jahr veranstaltete Rundreise zu den pleistozänen Hominiden-Fundstellen Indonesiens besuchten die Teilnehmer in diesem Sommer gleichaltrige Fundstellen Mitteleuropas. Ziel war es, Lebensbedingungen, Migrationen und Evolution früher Menschen in beiden Regionen zu vergleichen.
Links
Hominiden-Fundstellen in Deutschland
Der Arbeitskreis Paläobiologie der Wirbeltiere stellt die Exkursionsziele im Rahmen von HOPsea kurz vor.
Website des internationalen Forschungsnetzwerks zur Erforschung der Hominiden.
(Christine Hertler / Universität Frankfurt am Main, 22.09.2006 – AHE)