Gemächlich fällt eine Schneeflocke vom Himmel und gesellt sich unauffällig zu ihren Artgenossen auf dem Hausdach. Eine weitere Flocke fällt, dann noch eine, und dann noch ein paar Millionen mehr, bis das ganze Dach wie von einem weißen Tuch bedeckt ist. Aber, so heißt es, selbst wenn mehrere Milliarden Schneeflocken vom Himmel fallen – nie sei ein Schneekristall wie der andere. Jeder sei für sich einzigartig – so wie der Mensch. Stimmt das?
„Es ist extrem unwahrscheinlich, dass zwei komplexe Schneekristalle genau gleich aussehen“, sagt Kenneth Libbrecht, Physikprofessor am US-amerikanischen California Institute of Technology in Pasadena. „Es ist sogar so unwahrscheinlich, dass man keine exakten Kopien finden würde, wenn man jedes Kristall ansehen würde, die jemals gemacht wurde.“ So lautet seine Kurzantwort. Aber in Wirklichkeit sei das Problem viel komplexer, erläutert Libbrecht: „Es hängt davon ab, was man mit gleich meint und was mit dem Wort Schneekristall.“
Ab wann ist eine Schneeflocke eine Schneeflocke?
Bei zwei Schneekristallen, die sich nur aus je einer Handvoll von Wasser-Molekülen zusammensetzen, bestehe tatsächlich die Möglichkeit, dass sie komplett gleich seien, erläutert Libbrecht. Dann sind die Kristalle allerdings noch so winzig klein, dass sie mit dem Mikroskop, geschweige denn mit dem bloßen Auge gar nicht zu sehen sind.
Wenn die beiden Mini-Kristalle auf ihrem Weg von der Wolke zur Erde größer werden, weil sich mehr Wassermoleküle an sie anlagern, steigt die Wahrscheinlichkeit rapide, dass eine von ihnen anders wächst als die andere. Es müssen sich nur die Temperatur oder die Luftfeuchtigkeit minimal unterscheiden, schon entsteht ein komplett anderer Schneekristall. Aber nicht nur das: Selbst unter gleichen Bedingungen werden andere Kristalle entstehen. Denn die Atome stapelten sich nicht mit perfekter Regelmäßigkeit, sondern es entstünden laufend Fehler im Gerüst, sagt Libbrecht.
Der Physiker vergleicht den Wachstum eines Schneekristalls mit dem Vorhaben, 15 Bücher auf einem Buchregal abzustellen: Für das erste Buch gibt es 15 Möglichkeiten, für das zweite 14, für das dritte noch 13. „Multiplizieren Sie es aus: Es gibt mehr als eine Milliarde verschiedene Arten, 15 Bücher aufzustellen.“ Je größer die Anzahl der Bücher wird, desto mehr steigt die Zahl ins Unendliche. So sei es auch bei den Schneekristallen. Je größer sie werden, je mehr Atome sie also anlagern, desto unwahrscheinlicher wird es, dass zwei absolut gleiche Formen entstehen.
Sind zwei Schneekristalle gleich, wenn sie gleich aussehen?
Den Mythos, dass keine zwei Schneekristalle gleich sind, hat vor 90 Jahren der Farmer Wilson Bentley aufgestellt. Er hatte Fotos dieser Kristalle unter dem Mikroskop gemacht und im Laufe seines Lebens unzählige Schneeflocken betrachtet. Er schrieb im Jahr 1922: „Jeder Schneekristall hat eine unendliche Schönheit, die durch das Wissen vergrößert wird, dass der Betrachter aller Wahrscheinlichkeit niemals einen andere finden wird, der genauso aussieht.“ Er zumindest fand im Laufe seines Lebens offenbar keine zwei gleichen.
Diese gutklingende Theorie wagte lange Zeit niemand in Frage zu stellen. Umso größer war das Staunen, als in den 1980er Jahren die Wissenschaftlerin Nancy Knight vom US-amerikanischen National Center for Atmospheric Research die Bilder von zwei Schneekristallen veröffentlichte: Diese sahen unter dem Mikroskop komplett gleich aus. Ein Dogma schien widerlegt.
Aber heißt gleich aussehen auch gleich sein? Libbrecht meint nicht, denn mit einem optischen Mikroskop sehe man eben nicht die einzelnen Atome: „Wenn man eine mäßige Zahl von antarktischen Schneekristallen durchsucht, ist es nicht schwer vorzustellen, dass man zwei findet, die unter dem Mikroskop ununterscheidbar sind.“ Schneekristalle, die gleich aussehen, könne man auch im Labor herstellen. Aber exakt gleich auf atomarer Ebene seien sie dann eben doch nicht.
08.02.2013 – NPO